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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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intelligenten, oft frechen Witz geprägt, der für einen so jungen Menschen verblüffend war. Es ging um ein Familienpicknick, und Hester mußte beim Lesen unwillkürlich lachen, obwohl die Geschichte traurig klang und sich unter dem Humor des Verfassers ein feines Gespür für Grausamkeiten aller Art verbarg. Sie mußte nicht erst auf den Deckel sehen, um zu wissen, daß Joscelin sie geschrieben hatte.
    Es war auch ein Aufsatzheft von Lovel vorhanden. Sie blätterte die Seiten durch, bis sie auf eine ähnlich lange Geschichte stieß. Rosamond durchsuchte ein kleines Pult nach irgendwelchen Versen, also hatte sie genug Zeit, in Ruhe zu lesen. Diese Geschichte war von Grund auf anders; sie klang verträumt und romantisch, verwandelte die spärlichen Waldungen um Shelburne in einen riesigen, geheimnisvollen Wald, in dem Heldentaten vollbracht wurden und eine idealisierte Frau erobert und geliebt werden konnte – und zwar mit einer Reinheit des Herzens, die von der Realität der menschlichen Bedürfnisse und Probleme so meilenweit entfernt war, daß Hester die Tränen in die Augen stiegen, als sie sich vorstellte, wie hart die unvermeidliche Desillusionierung den Jungen getroffen haben mußte.
    Sie klappte das Heft zu und schaute zu Rosamond hinüber. Die Sonne schien auf ihren gesenkten Kopf, während sie die Schulhefte auf der Suche nach einem bestimmten Gedicht durchblätterte.
    Es dauerte eine Weile, bis sie auch das dritte Heft aufgestöbert hatte –Menards. Sein Stil war steif und ein wenig holprig. Er konnte wesentlich weniger gut mit Worten umgehen, doch die Quintessenz seiner Aufsätze war klar zu erkennen. Es ging um leidenschaftlich empfundenes Ehrgefühl und um grenzenlose Loyalität den Freunden gegenüber. Der Lauf der Geschichte wurde wie ein einziger Reiterzug der Stolzen und Guten dargestellt und mit einigen Anleihen aus der Artussage ausgeschmückt. Obwohl das Ganze geklaut und gestelzt klang, kam es eindeutig von Herzen, und Hester bezweifelte, daß der Mann die Wertvorstellungen abgelegt hatte, die er als Junge derart leidenschaftlich – und unbeholfen – aufgeschrieben hatte.
    Rosamond war fündig geworden und so in ihr Gedicht vertieft, daß sie weder merkte, wie Hester sich ihr näherte noch wie sie einen kurzen Blick über ihre Schulter warf und sah, daß es sich um ein sehr kurzes und sehr zärtliches, anonymes Liebesgedicht handelte.
    Hester wandte sich ab und ging zur Tür. Das war nichts, bei dem man sich einmischte.
    Kurz darauf klappte Rosamond das Büchlein zu. Es gelang ihr nur mühsam, den Frohsinn von vorhin wiederzufinden, aber Hester ließ sich nicht anmerken, daß es ihr auffiel.
    »Danke, daß Sie mitgekommen sind«, meinte Rosamond, als sie auf die Hauptgalerie mit den riesigen Blumenständern zurückgekehrt waren. »Es war sehr freundlich, daß Sie so viel Interesse gezeigt haben.«
    »Das hat überhaupt nichts mit Freundlichkeit zu tun«, protestierte Hester rasch. »Meiner Meinung nach ist es ein großes Privileg, einen Blick in die Vergangenheit werfen zu dürfen, indem man sich ehemalige Kinder und Schulzimmer anschaut. Ich danke Ihnen, daß Sie mich mitgenommen haben. Und Harry ist wirklich ein Schatz! In seiner Gegenwart muß es einem einfach gutgehen.«
    Rosamond lachte und machte eine abwehrende Handbewegung, war aber unübersehbar erfreut. Sie gingen gemeinsam nach unten ins Eßzimmer, wo das Mittagessen bereitstand und Lovel auf sie wartete. Als sie hereinkamen, stand er auf und machte einen Schritt auf Rosamond zu. Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle er etwas sagen, dann war der Impuls verpufft.
    Rosamond zögerte einen Moment; ihr Blick war hoffnungsvoll. Hester haßte es, gerade jetzt hier zu sein, aber einfach zu gehen, wäre absurd gewesen. Das Essen stand auf der Anrichte, der Lakai wartete darauf, es zu servieren. Sie wußte, daß Callandra außer Haus war, um eine alte Bekannte zu besuchen – und zwar um Hesters willen –, doch Fabia fehlte überraschenderweise ebenfalls: Ihr Platz war nicht besetzt.
    Lovel fing ihren Blick auf.
    »Mama fühlt sich nicht wohl«, erklärte er kühl. »Sie bleibt auf ihrem Zimmer.«
    »Oh, wie schade«, sagte Rosamond automatisch. »Hoffentlich nichts Ernstes?«
    »Hoffentlich«, pflichtete Lovel ihr bei, wartete, bis sie sich gesetzt hatten, ließ sich dann ebenfalls nieder und forderte den Lakai mit einem Handzeichen auf, das Essen zu servieren.
    Rosamond versetzte Hester unter dem Tisch einen leichten Tritt,

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