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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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keine Lust zu streiten. Es lag ihr auf der Zunge zu erwidern, daß sie alle möglichen Verletzungen kannte, aber das wäre herzlos gewesen. Sie hatte keinen Sohn verloren, und das war Fabias einziger Kummer.
    »Mein ältester Bruder ist auf der Krim gefallen.« Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. »Und kurz darauf starben meine Eltern«, fügte sie mühsam hinzu. »Könnten wir bitte das Thema wechseln?«
    »Sie Ärmste! Mein Gott, das tut mir leid. Natürlich – Sie haben es schon erwähnt. Vergeben Sie mir. Was haben Sie heute morgen gemacht? Würden Sie später gern mit dem Einspänner ausfahren? Das ließe sich ohne Schwierigkeiten einrichten.«
    »Ich war im Kinderzimmer und habe Harry kennengelernt.« Hester lächelte und blinzelte die Tränen fort. »Er ist wirklich ein Schatz –«
    Sie blieb noch ein paar Tage länger in Shelburne Hall. Von Zeit zu Zeit machte sie einen einsamen, ausgiebigen Spaziergang durch die windige, glasklare Luft. Die Schönheit des Parks erfüllte sie mit einem inneren Frieden, den sie bislang nur an sehr wenigen Orten gespürt hatte. Sie konnte besser über die Zukunft nachdenken, und Callandras Rat erschien ihr immer annehmbarer. Die Spannungen unter den Familienmitgliedern kamen seit dem Dinner mit General Wadham anders zum Ausdruck. Oberflächlicher Ärger wurde mit guten Manieren überspielt, aber Hester wurde anhand vieler kleiner Beobachtungen klar, daß Unglücklichsein und Unzufriedenheit zum Leben der Shelburnes gehörten wie die Nacht zum Tag.
    Fabia besaß eine Courage, die vermutlich zur Hälfte auf ihre strenge Erziehung sowie einen immensen Stolz zurückzuführen war, der es ihr nicht erlaubte, andern gegenüber Schwäche zu zeigen. Sie war von einer Selbstherrlichkeit erfüllt, die an Egoismus grenzte. Fabia liebte ihre beiden übriggebliebenen Söhne ohne Zweifel, aber sie war nicht besonders verrückt nach ihnen, und keiner von beiden verstand es, sie zu verzaubern oder zum Lachen zu bringen wie Joscelin.
    Mit Joscelin war ihre Lebenslust verschwunden.
    Hester verbrachte viel Zeit mit Rosamond und schloß diese nach und nach auf etwas distanzierte Art in ihr Herz. Bei so mancher Gelegenheit kamen ihr Callandras Worte über das tapfere, dem Selbstschutz dienende Lächeln in den Sinn, insbesondere eines frühen Abends, als sie vor dem Kamin saßen und eins ihrer belanglosen, oberflächlichen Gespräche führten.
    Ursula Wadham war zu Besuch. Ihrer Ansicht nach hatte Rosamond alles, was eine Frau sich nur wünschen konnte: einen reichen, adligen Ehemann, einen kräftigen Sohn, Schönheit, Gesundheit und ausreichendes Talent in der Kunst, auf andere einen guten Eindruck zu machen.
    Was wollte sie mehr?
    Hester lauschte Rosamonds Bekräftigungen, wie wunderbar alles sein würde, wie rosig die Zukunft aussähe, und entdeckte dabei in den dunklen Augen nicht die leiseste Zuversicht, nicht die mindeste Hoffnung – lediglich Verlorenheit, Einsamkeit und einen gewissen Mut der Verzweiflung, der sie weitermachen ließ, weil es keine Möglichkeit gab auszusteigen. Rosamond lächelte, damit sie ihre Ruhe hatte, um Fragen aus dem Weg zu gehen und sich ein bißchen Stolz zu bewahren.
    Lovel war beschäftigt. Er hatte eine Aufgabe, und solang er diese erfüllen mußte, wurde jedes dunklere Gefühl in Schach gehalten. Nur beim gemeinsamen Abendessen verriet eine gelegentlich eingeflochtene Bemerkung sein stilles Wissen um die innerfamiliären Dissonanzen.
    Menard steckte voller Wut, schien jedoch gleichzeitig unter etwas zu leiden, das er als große Ungerechtigkeit empfand. Hatte er zu oft hinter Joscelin aufgeräumt, um seiner Mutter die bittere Wahrheit zu ersparen, daß ihr Liebling ein Betrüger war? Oder wollte er sich und den Ruf der Familie schützen?
    Nur wenn sie mit Callandra zusammen war, konnte Hester sich entspannen, obwohl sie sich auch bei ihr schon gefragt hatte, ob die Selbstgenügsamkeit das Resultat vieler glücklicher Jahre oder auf Callandras kämpferisches Wesen zurückzuführen war.
    Diese Gedanken waren ihr eines Abends gekommen, als sie in Callandras Wohnzimmer ein leichtes Abendbrot zu sich nahmen, anstatt sich dem Dinner im Hauptflügel anzuschließen, und Callandra eine Bemerkung über ihren längst verstorbenen Ehemann machte.
    Hester war bislang davon ausgegangen, daß die Verbindung glücklich gewesen war, nicht etwa, weil sie etwas darüber wußte oder Callandra Daviot es ihr erzählt hätte. Sie

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