Das Gesicht des Teufels
ich am Tag des Laurentius Angst vor dem Küchenbratrost meiner Mutter bekam, am Sebastianstag fürchtete ich, wegen irgendwelcher lässlicher Sünden von einem Pfeil getroffen zu werden, und so ging es fort. Am Stephanstag stolperte ich einmal über eine trächtige Sau, weil ich ständig Ausschau hielt, ob einer mit Steinen auf mich zielt, und am Cäcilientag litt ich unter Halsschmerzen und konnte nur krähen statt singen.»
Dr. Carlstadt hatte sein Publikum. Er schaute von einem zum anderen, kaufte einem Lupinenverkäufer mit Bauchladen eine Kelle Lupinensamen ab und warf die einzelnen Samen zum Spaß in die Höhe, um sie mit dem Mund wieder aufzufangen. Derweil machte die Suppenverkäuferin das Geschäft des Monats. Immer mehr Menschen kamen, um diesem bissigen Gelehrten zuzuhören, der jetzt einzelne Lupinensamen in die Menge warf.
«Da haben wir eine Köhlerin im Spital, die hat beim Aderlass unsere Heilig-Kreuz-Reliquie bluten sehen», rief ein Mann. «Was sagt Ihr dazu?»
«Bestimmt ist sie auch so ein verlorenes Geschöpf wie ich einst! So verrückt war ich, dass ich Angst vor Bildern hatte, auf die der Teufel gemalt war. Aber ich sage euch allen: Hatte ich, so ein kleiner Knabe, nicht sogar recht? Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es doch, oder? Gott erwartet keine ausgeschmückten Kirchen, sondern einzig den Glauben an Christus. Bildwerke, Götzen, Reliquien –dahinter steckt schnöder Mammon, der den Armen entzogen wird, der Bauern und Kleinhäusler knechtet, Handwerker belastet und Tagelöhnern das letzte Blut aus den Adern presst.»
Applaus erscholl, schrille Pfiffe gellten über den Platz. Ulrich war jetzt hellwach. Die Köhlerin im Spital konnte niemand anders als Hanna sein. Doch schon wurde die nächste Frage gerufen: «Kennt Ihr unseren blinden Mönch, den Hans?»
«Den aufrichtigsten Geistlichen der Stadt? Ich werde mich von ihm segnen lassen!»
Der Applaus schwoll an.
«Unser Hans sagt, die Reliquie könne gar nicht anders als zu weinen, weil die ehrlichen kleinen Leute so geknechtet werden. Sagt, hat er da recht?»
Dr. Carlstadt kam nicht zum Antworten, denn auf einmal entstand ein hitziges Gedrängel. Zwei Männer schubsten sich gegenseitig, einer ein Handwerksbursche, der andere, der schwarzen Kleidung nach zu urteilen, ein Schreiber. «Wenn die Reliquie blutige Tränen vergießen würde, du Hund, dann, weil unser Herr darüber weint, dass es immer mehr Menschen gibt, die gegen seine Ordnung aufbegehren.»
«Nein! Es ist genau umgekehrt, du Blutsauger. Der Herr würde weinen, weil euresgleichen alle Menschlichkeit verloren hat. Dein Vater hat uns den Mietzins erhöht. Und du? Du Sohn eines Geiers trägst einen gefütterten Mantel, die Unterröcke meiner Frau aber sind aus Flicken.»
Ulrich blieb das Lachen im Hals stecken, als eine Frau mit heiserer Stimme schrie, sie wisse es genau: Die Reliquie werde bluten, weil sie die Frau kenne. «Sie will uns ein Zeichen geben, wachen wir auf! Ich kenne diese Köhlerin. Sie hat das andere Gesicht!»
«Niemals, Magdalena! Himmel, du dummes Stück. Sie ist eine Hexe. Und sie hat noch ganz andere Gesichte!»
Die Stimme gehörte einem stämmigen Mann, der mit seinem Zwillingsbruder an einem Leiterwagen mit einem Bierfass lehnte. Er hatte die Arme verschränkt, seine Miene sah so selbstgefällig wie gewaltbereit aus.
Ulrichs Herz begann heftig zu klopfen. Meine Hanna?, fragte er sich entsetzt. Ich weiß doch gar nichts davon.
Bestürzt schaute er zu Dr. Carlstadt, der sich jetzt mit einem ihm bekannten Patrizier aus dem Rathaus unterhielt, während eine Gruppe Frauen lautstark beschloss, sie würden zum Spital gehen.
Inzwischen war es ein wenig wärmer geworden, auch zog es nicht mehr aus der Hafengasse. Ein Fleckchen Blau zeigte sich am Himmel, und als für einen Augenblick die Sonne durchbrach, hetzte einer der beiden Bierkutscher: «Los, was seid ihr für Männer! Tragt es mit dem Messer aus! Kühlt euer Blut mit Blut.»
Ulrich hatte das Gefühl, aus einem Traum gerissen worden zu sein, als der Handwerker den Schreiber so heftig schubste, dass dieser stürzte. Ohne länger nachzudenken, zog er sein Rapier und drängte sich durch die Umstehenden.
«Geht auseinander!», rief er und ließ die Klinge durch die Luft sausen.
Sein Herz klopfte heftig. Ihm war, als würde er erst jetzt wirklich aufwachen. Er packte den Schreiber beim Arm, riss ihn hoch und stieß ihn fort. Dem Handwerker hielt er die Spitze seiner Waffe an den
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