Das Gesicht des Teufels
Lieblingsjünger Johannes ruhte schlafend an der Brust des Herrn.
Herr, hilf!
Hanna schaute in die scheinbar unbeteiligten Gesichter der Messdiener. Ratsprediger Teuschlin drückte ihr ein weißes, mit Weingeist angefeuchtetes Seidentuch in die Hand und trat zurück. Hanna suchte Ulrich, sah, dass er lächelte und ihr zunickte.
Langsam kletterte sie die Stufen empor. Mit jedem Knarzer, den die Leiter von sich gab, wurde es wieder ein Stück stiller. Die Menschen hielten die Luft an, die Gesichter waren wie eingefroren. Hanna schaute nicht auf den Boden hinunter. Bis jetzt konnte sie nirgends Blut entdecken. Aber noch war sie ja auch nicht auf Augenhöhe mit dem Gesprenge, das das Altarretabel krönte. Vor allem diesem Gesprenge verdankte Rothenburg seinen Ruf alsPilgerstadt: Zwei Engel hielten das Kreuz mit der berühmten Reliquie, einer Bergkristallkapsel, die einen Tropfen verschütteten Abendmahlwein einschloss. Infolge eines Wunders hatte sich der Tropfen einst in das Blut Christi verwandelt, vor wenigen Tagen nun sollte der Kristall geschwitzt haben …
Hanna stieg noch eine Stufe höher. Nicht schauen, ermahnte sie sich, nicht nach rechts, nicht nach links. Ich werde es schaffen. Die Leiter stand fest, trotzdem begannen Hanna Hände und Füße zu kribbeln. Ihre Hand mit dem Seidentuch war schweißnass.
Wo ist denn nun das Blut?
Da sah sie es: Ein paar braunrote Schlieren klebten auf den himmelwärts schauenden Engelsgesichtern, ein weiterer Spritzer befand sich am Fuß des goldenen Kreuzes.
Und die Kristallkapsel? Hanna nahm noch eine Stufe. Schon auf den ersten Blick sah sie, dass das kein Blut war. Dafür waren die Schlieren viel zu hell. Jemand hatte Farbe benutzt und damit die heilige Reliquie ohne Skrupel beschmiert und entweiht.
Sie hob das Seidentuch.
«Hanna Völz», rief Prediger Teuschlin, «was siehst du?»
«Vieles, aber gewiss kein Blut.»
«Bist du dir sicher?»
«Ja.»
«Und was waren deine Worte, als du zur Ader gelassen wurdest?»
«Selbst wenn es aus dem Kreuz vom heiligen Blut strömte und der Kristall Blut weinte, Christi Blut …, Ihr, Bader, würdet so lange zur Ader lassen, dass auch die Heilige Jungfrau nicht mehr helfen kann.»
«Warum hast du das gesagt?»
«Weil ich zornig war und der Aderlass so wehtat. Eshätte nicht viel gefehlt, und der Bader hätte mir so viel Blut genommen, dass ich nicht mehr aufgewacht wäre.»
«Und an unserer heiligen Reliquie klebt kein Blut?»
«Nein, es ist Farbe.»
Ein gewaltiges Raunen ging durch die Kirche. Beherzt wischte Hanna mit dem Seidentuch über den Kristall. Das Tuch rötete sich, der Kristall war wieder blank. Die Flecken am Fuß des Kreuzes und auf den Engelsgesichtern ließen sich schwerer beseitigen, aber schließlich hatte sie auch hier Erfolg.
Sie stieg die Leiter hinab und gab Teuschlin das Tuch. Er breitete es aus und hielt es in die Luft.
«Farbe», rief er. «Nur Farbe! Gott strafe denjenigen bis ins siebte Glied, der es gewagt hat, unsere Reliquie zu missbrauchen und zu entweihen. Die ewige Verdammnis wird ihm sicher sein.»
Ritter und Ratsprediger erhoben sich: «Domine ne in furore tuo arguas me … Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!»
Laut beteten sie den Bußpsalm, während Hanna vom Sakristan und den Messdienern aus der Kirche geführt wurde.
15
Das Dominikanerinnenkloster lag der Hauptkirche St. Jacob gegenüber und war wie das Heilig-Geist-Spital eine Welt für sich. Im Gegensatz zum Spital aber lebte es sich hinter seinen hohen Mauern so angenehm wie in einem kleinen Paradies. Die hohen Klostermauern schlossen die gärende Unzufriedenheit der kleinen Leute Rothenburgs genauso aus wie Schmutz, Hunger und Siechtum.
Hanna war in den ersten Tagen immer wieder aufs Neue überrascht, wie ruhig es im Reich der Priorin Agathe von Detwang, Ulrichs fünf Jahre älterer Schwester, zuging. Selbst wenn sie in der Klosterküche einen Napf Suppe für die Armen abfüllte und in die Drehlade stellte, hatte sie das Gefühl, die Welt draußen ginge sie nichts mehr an. Dabei stiegen die Preise unablässig, Brot und Bier wurden immer teurer, auch Wein und Gemüse. Natürlich war vor allem das Wetter daran schuld, erst das feuchte Frühjahr, dann der knochentrockene Sommer. Aber die Menschen in und um Rothenburg ärgerten sich auch über die hohen Abgabenlasten, die die Deutschherren sowie andere Edle, Patrizier und Kirchenobere trotz der Missernten einforderten.
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