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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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erben sollen.
    Aus einer Innentasche seiner Jacke zog Deucalion ein zusammengerolltes Blatt, das er gewöhnlich in seiner Reisetasche aufbewahrte. Er löste den Knoten des Bandes, mit dem der dicke Bogen zusammengehalten wurde, rollte das Papier auseinander und starrte es einen Moment lang an, ehe er es Jelly zeigte.
    Nachdem er die Bleistiftzeichnung eingehend gemustert hatte, sagte Jelly: »Das ist Helios.«
    »Ein Selbstporträt«, sagte Deucalion. »Er ist … begabt. Ich habe es aus einem Rahmen in seinem Arbeitszimmer gestohlen … vor mehr als zweihundert Jahren.«
    Jelly wusste offenbar genug, um diese Aussage ohne Erstaunen zur Kenntnis zu nehmen.
    »Diese Zeichnung habe ich Ben gezeigt«, sagte Deucalion. »Mehr als einmal. Daher hat er Victor Helios erkannt und gewusst, wer er in Wirklichkeit ist.«
    Deucalion legte Victors Selbstporträt aus der Hand, nahm einen zweiten Ausschnitt aus dem Schuhkarton und sah ein Foto von Helios vor sich, auf dem er vom Bürgermeister von New Orleans eine Auszeichnung entgegennahm.
    Ein dritter Zeitungsausschnitt: Victor mit dem Staatsanwalt während seiner Wahlkampagne.
    Ein vierter: Victor und seine hübsche Frau Erika auf einer Benefizauktion.
    Victor beim Erwerb einer Villa im Garden District.
    Victor, der ein Begabtenstipendium an der Tulane University stiftet.
    Victor, Victor, Victor .
    Deucalion konnte sich nicht erinnern, die Zeitungsausschnitte
von sich geschleudert oder den kleinen Raum durchquert zu haben, doch genau das musste er getan haben, denn das Nächste, was er wusste, war, dass er erst die rechte Faust und dann die linke in die Wand geschmettert hatte, durch den alten Verputz. Als er seine Hände zurückzog und herausgebrochene Stücke des Putzträgers umklammert hielt, zerbröckelte ein Teil der Wand und fiel ihm vor die Füße.
    Er hörte sein eigenes Wut- und Schmerzensgeheul, doch es gelang ihm, den gequälten Schrei zu ersticken, bevor er restlos die Kontrolle darüber verlor.
    Als er sich zu Jelly umdrehte, wurde vor seinen Augen alles hell, dann dunkel und dann wieder hell, und Deucalion wusste, dass durch seine Augen ein hintergründiges Leuchten ging, wie Wetterleuchten hinter Wolken in einer Sommernacht. Dieses Phänomen hatte er selbst schon in Spiegeln gesehen.
    Jelly hatte die Augen weit aufgerissen und schien drauf und dran zu sein, jeden Moment aus der Vorführkabine zu stürzen, doch dann stieß er den angehaltenen Atem aus. »Ben hat gesagt, du würdest dich darüber ärgern.«
    Fast hätte Deucalion lauthals über diese grandiose Untertreibung und die Tollkühnheit des Fettwanstes gelacht, doch er fürchtete, sein Lachen würde die Gestalt von Wutgebrüll annehmen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte er beinah die Selbstbeherrschung verloren und hätte fast den verbrecherischen Impulsen nachgegeben, die vom Moment seiner Erschaffung an ein Teil von ihm gewesen waren.
    Er sagte: »Weißt du überhaupt, was ich bin?«
    Jelly sah ihm in die Augen, betrachtete die Tätowierung und die Verwüstungen, die sie nur zum Teil verbergen konnte, und schaute nachdenklich seinen großen, klobigen Körper an. »Ben … er hat es mir erklärt. Vermutlich könnte es wahr sein.«
    »Ich kann dir nur raten, es zu glauben«, warnte ihn
Deucalion. »Meine Ursprünge gehen auf einen Gefängnisfriedhof zurück. Ich stamme von den Kadavern Krimineller ab – eine wüste Kombination aus ihnen, die wiederbelebt und wiedergeboren worden ist.«

14
    Draußen war die Nachtluft heiß und stickig. In der Bibliothek von Victor Helios ließ einen die Klimaanlage so sehr frösteln, dass ein fröhlich prasselndes Feuer im Kamin eine Notwendigkeit war.
    Feuer spielte eine Rolle in einigen seiner weniger erfreulichen Erinnerungen. Die große Windmühle. Die Bombardierung von Dresden. Der Angriff des israelischen Mossad auf das geheime venezolanische Forschungsgelände, das er sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit Mengele geteilt hatte. Trotzdem las er gern vor einem gemütlich knisternden Kaminfeuer.
    Wenn er, wie jetzt, in medizinischen Fachzeitschriften wie The Lancet , JAMA und Emerging Infectious Diseases las, diente das Feuer nicht nur der Atmosphäre, sondern war auch ein Ausdruck seiner qualifizierten wissenschaftlichen Meinung. Häufig riss er Artikel aus Zeitschriften heraus und warf sie in die Flammen. Gelegentlich verbrannte er eine komplette Ausgabe.
    Wie üblich konnten ihm die etablierten Wissenschaftler nichts Neues beibringen. Er war ihnen

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