Das Gespinst des Bösen
dort.»
«Ihre Schwägerin … Joanna? Ich glaube, ich bin ihr mal begegnet.»
«Joanna Harvey. Sie kommt nicht zur Kirche, und ich an ihrer Stelle würde wahrscheinlich auch wegbleiben oder in eine Kirche gehen, die kilometerweit weg ist. Shirley ist nach ihrer Scheidung hergezogen, um in der Nähe ihres älteren Bruders, Colin, zu sein. Joanna ist schon nach den wenigen Monaten, die Shirley jetzt ihre Nachbarin ist, am Ende mit den Nerven. Sie will unbedingt wegziehen, nur um von ihr wegzukommen, aber Colin empfindet eine gewisse familiäre Verantwortung.»
«Alles Dinge, die ich wissen sollte.»
«Shirley war sieben Jahre lang verheiratet, ehe sie auf einer Party herausfand, dass der verstorbene Frederick West ein entfernter Cousin ihres Mannes war. Der sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihr davon zu erzählen – zweifellos, weil er die mögliche Wirkung vorausgesehen hat. Eine Wirkung, die offenbar noch durch die Art verschlimmert wurde, auf die es Shirley herausfand. Und durch die gedankenlosen Witze, die Colin darüber gemacht hat, was sich wohl unter dem Betonboden ihrer Terrasse befindet. Es hat sie verfolgt, ist zu einer Obsession geworden. Schließlich hat sie geglaubt, ihr Ehemann wäre vom Bösen verseucht und die ganze Familie stünde unter dem Einfluss des Bösen.»
Für einen so kleinen Mann hatte Fred West einen ziemlich langen Schatten geworfen.
Merrily sagte: «Sein Bruder John war wegen Vergewaltigung angeklagt und hat sich erhängt, auf genau dieselbe Art wie Fred. Andere Familienmitglieder haben emotional Schaden genommen, was die vorhersehbaren Auswirkungen auf ihre häusliche Situation hatte. Aber … es gibt Dutzende vollkommen gesunder, ausgeglichener Wests …»
«Es ist klar, dass Shirley psychische Probleme hat.»
«Mir war es offenbar nicht sofort klar», sagte Merrily.
«Sie schläft in einem anderen Zimmer als ihr Ehemann und wirft ihm abartiges Sexualverhalten vor. Er arbeitete – arbeitet vermutlich immer noch – für einen Futtermittelhändler, beliefert die Höfe, und sie behauptet, er hätte ein Verhältnis mit zwei Schwestern, die einen kleinen Bauernhof haben. Vollkommen unbegründet, laut Joanna. Es gäbe noch mehr zu erzählen, aber Sie haben jetzt wohl eine ungefähre Vorstellung.»
«Oh Gott.»
«Sie wäscht zwanghaft ihre Kleidung. Sie sieht nicht fern, und sie liest keine Zeitungen, weil sie von so viel Unmoral und Schmutz berichten. Vor ungefähr vier Jahren hat sie zum ersten Mal seit ihrer Kindheit wieder einen Gottesdienst besucht … seitdem ist sie eine besessene Kirchgängerin. Sie hat sich im Internet christlichen Chat-Gruppen angeschlossen, vor allem amerikanischen. Ehe sie hierhergezogen ist, ist sie zum Gottesdienst ins Kloster von Leominster gegangen, wo sie die Nähe des Vikars gesucht hat – Tom Dover?»
«Ich kenne ihn flüchtig. Er ist inzwischen woanders hingegangen.»
«Und das sicher schneller, als er es normalerweise getan hätte. Shirley hat darauf bestanden, seine Wäsche zu machen – es ging ihr speziell um seine Soutane. Er ist immer noch Vikar, in der Nähe von Swindon. Ich habe ihn vor ungefähr einer Stunde vom Handy aus angerufen. Er sagte, er fühle sich schuldig – er hätte irgendjemandem von Shirley erzählen sollen.»
«Aber sie ist eine berufstätige Frau. Sie leitet doch die Zweigstelle einer Bank.»
«Wo sie den Kunden, laut Joanna, regelmäßig ungefragt moralische und spirituelle Ratschläge gibt. Ihren ehelichen Namen hat sie behalten, als eine Art Selbstkasteiung. Sie sollten wirklich besser aufpassen, Merrily, besonders nach Ihren Problemen mit Jenny Driscoll vor einiger Zeit. Wie ich Jane schon gesagt habe, ist das keine ungewöhnliche Situation, insbesondere für Pfarrer
innen
.»
«Das wird mir auch langsam klar. Was schlagen Sie vor?»
«Shirley braucht Hilfe, Orientierungshilfe.
Nicht
jemanden wie unseren Freund Nigel Saltash, aber ich kenne jemanden – eine Psychiatrieschwester und Kirchgängerin, die ich für Ihr Team vorgeschlagen
hätte
, wenn ich nicht glauben würde, dass Sie jedem gegenüber, den ich vorschlage, misstrauisch sind.»
Merrily seufzte. «Siân –»
«Und ja, nach Saltash kann ich das verstehen. Ein Grund dafür, warum ich mich zu Ihrer Vertretung habe wählen lassen, ist – wenn ich Erzdiakonin werde, wäre es mir ein Gräuel, wenn wir wegen … Missverständnissen nicht gut miteinander stünden. Ich akzeptiere, dass wir theologische Differenzen haben, aber ich
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