Das Gespinst des Bösen
Fäuste so tief in die Taschen ihrer Barbourjacke gesteckt, dass durch die Löcher ihre Knöchel zu sehen waren.
«Wissen Sie, was eine Nachtwache ist, Mrs. Watkins? Oder war?»
«Ähm … vielleicht.»
«An den meisten Orten hat es so was Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Man sagt, Garway wäre der letzte Ort in Herefordshire gewesen, der es noch gemacht hat. Aber es war auch hier fast vorbei damit, als die Newtons die Tradition wieder aufleben ließen.»
«Das war die Familie, die das Haus von den Gwilyms gekauft hat, oder?»
«Und wie viel wissen Sie darüber?»
«Nicht viel. Deshalb bin ich hier. Um mich über die Geschichte zu informieren.»
«Fychan Gwilym», sagte Mrs. Morningwood.
«Bitte?»
«Ein Name, der auf dieser Seite der Grenze unvermeidlicher- und absichtlicherweise falsch ausgesprochen wird. Mit Fychan fing alles an. Er war um die letzte Jahrhundertwende der Patriarch der Gwilyms. Berüchtigter Säufer, Spieler, Wüstling, Frauenverdrescher und, das war das Schlimmste, ein
sehr
schlechter Bauer. An den Wochenenden war er in den Amüsierlokalen von Hereford und Monmouth anzutreffen, an Wochentagen hat er gejagt und den Hof langsam in den Ruin getrieben.»
«Wann war das?»
«In den ersten Jahren nach 1900 ? Zum Glück haben sie den Bastard eines Tages tot auf der Straße nach Bagwyllydiart gefunden. Der älteste Sohn war noch viel zu jung, um den Hof zu übernehmen, und die Witwe – man kann sich vorstellen, wie erleichtert sie war – hat die Aasgeier weggeschickt und ist in ein Cottage am Rand des Dorfes gezogen. Den Hof hat sie an die Newtons verkauft, das hat damals alle schockiert – die Newtons waren nämlich von außerhalb, Mrs. Watkins.»
«Wie
weit
außerhalb?»
«Richtung Ross, glaube ich. Ziemlich wohlhabende Bauern, die Newtons, haben was für ihren zweiten Sohn gesucht. Die Gwilyms schäumten vor Wut. Ganze Horden sind aus ihren Löchern gekommen, rotgesichtige, spuckende und fluchende Bastarde – na ja, ich übertreibe, aber jedenfalls fand die Witwe Gwilym es angebracht, die Gegend innerhalb eines Jahres ganz zu verlassen.»
«So wichtig war das Haus für die Familie? Oder ging es um das Land?»
«Hauptsächlich um das Haus. Es war das Haus ihrer Vorfahren. Sie haben versucht, den Verkauf rückgängig zu machen, aber er war rechtskräftig. Und als die Newtons dann drin waren, haben sie noch mehr Land gekauft – ein paar Felder hier, ein bisschen Wald da – ein ziemlich einträglicher Besitz. Dabei war ihnen natürlich die ganze Zeit bewusst, dass ihnen die Familie Gwilym auf der walisischen Seite bedrohlich dicht auf den Pelz rückte – jahrelang in Form von Owain Gwilym, der einen Hof in der Nähe von Skenfrith hatte, der sich fast bis zur Grenze erstreckte. Er war entschlossen, die Newtons zu vertreiben und das Meisterhaus zurückzubekommen. Kein idealer Nachbar.»
«Klingt, als wäre der Boden für eine klassische Grenzfehde bereitet worden.»
«War unvermeidlich. Zwei Bauerndynastien, Mann gegen Mann. Drohungen … niedergerissene Zäune … zerstörte Weidegatter … es wurden Vorräte gestohlen …» Mrs. Morningwood schnaufte verächtlich. «Bauern können wie Kinder sein – schikanieren sich und machen gegenseitig ihr Spielzeug kaputt. Sie haben die Einwohner in zwei Lager gespalten. Man war entweder für die Gwilyms oder für die Newtons. Und die Newtons hatten in der Zeit deutlich mehr Geld und waren ihren Arbeitskräften gegenüber großzügig.»
«Das ist immer hilfreich.»
«Und sie waren clever. Haben immer wieder Möglichkeiten gefunden, geradezu mit der Gegend zu verschmelzen, ihre Traditionen anzunehmen, zu lernen, wie sie funktionieren – und das zu
benutzen
. Was uns wieder zu der Nachtwache bringt. Ist es Ihnen wieder eingefallen?»
«Ich denke …» Merrily warf Jane einen wachsamen Blick zu. «… dass es darum ging … den Toten Gesellschaft zu leisten.»
Mrs. Morningwood verschränkte die Arme und legte den Kopf in den Nacken, als wollte sie den Gedanken die Gelegenheit geben herunterzurutschen.
«Insbesondere Felicity Newton. Ich kann mich an sie nur als alte Frau erinnern. Sie muss fast hundert gewesen sein, als sie in den fünfziger Jahren gestorben ist – und die Hundert haben damals nicht viele Menschen erreicht. Ihr Sohn, Ralph, hat beschlossen, daraus ein Ereignis zu machen – theoretisch, damit jeder die Gelegenheit hat, ihr die letzte Ehre zu erweisen. Inzwischen ist
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