Das Geständnis der Amme
Worte wie Waffen einsetzte und jede Floskel der Höflichkeit zurückwies. Lothar schiendas zu gefallen, wie man aus seinem breiten Grinsen schließen konnte, und dennoch hatte Balduin das Gefühl, dass eine Spannung in der Luft lag, die jäh an der Heimeligkeit und dem Schutz des Ortes kratzte. Er war sich nicht sicher, woran sich sein Unbehagen auflud – an Judith, eben noch die vertraute, natürliche Frau an seiner Seite, die sich binnen weniger Sätze zur hochmütigen Königin verwandelt hatte, oder an diesem sonderbaren Zusammentreffen zweier Mitglieder einer Familie, in der Hader, Neid und Streit viel kräftiger sprossen als Zuneigung.
Als Lothar zu ihm trat, um nach Judith auch ihren Gemahl zu begrüßen, erwartete Balduin ein gewisses Maß an Verachtung ob seines eigenen Standes, der gegenüber dem von Judith so gering war.
Doch als Judith vortrat, um ihn vorzustellen, ward plötzlich sämtliche Spannung aufgelockert von einem kleinen blonden Knaben, der auf sie zugesprungen kam und eine Flut von Worten über Lothar ergoss.
»Wo bleibst du? Wir wollen weiterüben? Wilfried hat behauptet, es würde dir niemals gelingen, die Lanze derart weit zu werfen!«
Balduin vermutete, dass dies Lothars Sohn war, den Judith schon mehrmals erwähnt hatte, und tatsächlich nannte der Knabe Lothar seinen Vater und zog ihn ungeduldig an der Hand.
Das Lächeln, das in Lothars Gesicht erschien, war weicher –und echter, ebenso wie der Stolz, mit dem er sich nun an Judith wandte.
»Das ist mein Sohn Hugo«, erklärte er und strich dem Kleinen über die blonden Haare. Deren Farbe hatte nichts mit der Haarfarbe jener Karolinger gemein, die Balduin kannte, doch als er in das Gesicht des Knaben blickte, erinnerten ihn die geschwungenen Lippen an die von Ludwig. In Hugos Gesicht wirkten sie freilich hübscher und irgendwie … gesünder als in dem entstellten des Königs sohns.
»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Hugo«, sprach Judith ernsthaft, und auch ihre Züge wurden sichtbar freundlich. DieSpannung löste sich, die behagliche Stimmung kehrte zurück, und dennoch zögerte Balduin zu lange, um seinen Arm vertraulich um Judith zu legen. Als er den Mut fasste, es – zum ersten Mal in Anwesenheit anderer Menschen – zu wagen, da war sie Lothar schon auf dem Weg ins Hauptgebäude gefolgt.
Balduin ließ den Arm wieder sinken und ging rasch hinterher.
»Es ist … es ist gut, hier zu sein«, murmelte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Was immer Lothar verspricht, wir werden hier nicht ewig bleiben können«, gab sie zurück. »Aber wir sollten die Zeit nutzen, um zu Kräften zu kommen … und neue Pläne für die Zukunft zu machen, was immer sie uns auch bringen mag.«
Erst als er den Saal betrat, fühlte Balduin, wie sehr ihm der Magen knurrte, und er freute sich auf eine üppige Tafel. Er ging davon aus, dass die Tafel eines Königs festlicher ausfallen würde, als er es gewohnt war, und einige besondere Leckerbissen bereithalten würde. Doch was er stattdessen erblickte, war so enttäuschend, dass er vor Staunen fast den Hunger vergaß.
Stattlich hatte die Pfalz draußen im Hof gewirkt. Die Wirtschaftsgebäude waren aus stabilen Fachwerkwänden errichtet und mit Schindeldächern bedeckt, die Mauern des Stalls waren aus Baumstämmen mit zwischengefüllter Erde gefertigt, sodass keine Ritzen für den kalten Wind offen blieben. Im Haupthaus hatte er deshalb erwartet, auf noch viel deutlichere Zeichen des Wohlstandes zu stoßen.
Doch der Saal erinnerte ihn eher an eine der Spelunken, in der er manches Mal mit Judith hatte nächtigen müssen. Zwar gab es einen großen, aus Bruchsteinen gemauerten Kamin, doch um diesen herum war schon lange nicht mehr gekehrt worden: Der Stein war schwarz vor Ruß, und die Asche bedeckte den Boden bis zum Eingangsbereich hin. An den Wänden aufgespannt waren die großen Felle von Hirschen, Wildschweinen, Luchsen und Auerochsen – aber auch diese waren vom Rauch verdunkelt. SeitEwigkeiten schien sich keiner die Mühe gemacht zu haben, sie abzubürsten.
Verwirrt blickte Balduin auf Judith, die das alles schulterzuckend zur Kenntnis nahm. Ein Hauch von Missbilligung und Ekel streifte ihre Züge, ehe jene ausdruckslos wurden.
Lothar selbst schien an den Zustand seines Hofs gewohnt zu sein. Zu Balduins Erstaunen schritt er selbst – noch mit Hugo auf dem Arm – behände hin und her und sprach Befehle aus, die eigentlich aus dem Mund einer Frau oder zumindest des Seneschalls hätten
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