Das Geständnis der Amme
einstigen Amme, sondern an dem Wind, dessen kaltes Keuchen sie immer durchdringender traf.
Später an jenem Abend begann es zu schneien.
Am nächsten Morgen nahm der Sturm zu und erzeugte in der Ferne ein bedrohliches Rumoren – entweder von Schneemassen, die in die Täler stürzten, oder weil seine stöhnenden Laute an den Felswänden widerhallten. Die in Schnee versunkene Landschaft hatte sich anfangs unberührt gezeigt, doch nun trug der Wind die oberste Schicht der weißen Wiesen mit sich wie andernorts den Sand; er schien sie ihnen nahezu ins Gesicht zu schlagen, spitz und schmerzhaft.
Noch war diese Schneeschicht dünn, doch bald kam neues Weiß hinzu: zuerst in Form von kleinen, halbgefrorenen Regentropfen, die beißend ins Gesicht stachen, am Boden aber sofort schmolzen und den Weg nur noch rutschiger machten, schließlich in immer dichteren, weichen Flocken.
Die Welt versank derart im Weiß, dass Balduin bald nicht mehr wusste, wo oben und unten war: Blickte er auf die Hufe seines Pferdes, dann schien der Boden sie zu verschlucken wie gefährliche Sümpfe. Blickte er jedoch hoch, so bot sich ihnen kein schützendes Himmelszelt, sondern er sah nur Schneewände, die sich von allen Seiten aufbauten wie ein Grab.
Balduin kämpfte und fluchte, suchte die Augen mit der Hand abzuschirmen und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass die Reisegruppe noch vollständig war. Sein Blick freilich reichte kaum weiter als bis zum Hinterteil seines Pferdes.
»Judith?«, rief er gegen den Wind an, doch seine Stimme wurde entweder verweht oder erstickt. Der Schnee gerann auf seiner Haut, bannte sich seinen Weg über den Nacken und ließ sich von den Rändern der Kleidung nicht abhalten, sondern sickerte hindurch. Trotz der kalten Tropfen, die über seinen Rücken liefen, fror er jedoch nicht. Die Anstrengung, sein Pferd zu lenken und etwas zu erkennen – sei es die Gruppe, die ihn begleitete, oder der Weg vor ihm –, machte ihn atemlos, und schon nach kurzerZeit war er so erschöpft und müde, als hätte er sich durch viele Schlachtreihen gekämpft.
Seine Augen schmerzten so sehr, dass er sie schloss. Nunmehr blind war er sich nicht mehr sicher, ob sein Pferd überhaupt noch weitertrabte oder seine Hufe in den schweren Massen steckenblieben. Er konnte nicht mehr sagen, ob sie bereits Stunden unterwegs waren oder nur einige Augenblicke. Die Gesetze der Zeit schienen ebenso außer Kraft gesetzt wie die des Raums.
Wenn wir nicht weiterkommen, werden wir erfrieren, dachte er – doch sein Kopf war zu leer, um von dem Gedanken sonderlich aufgewühlt zu werden.
In dieser Gemütslage deuchte ihn der Schnee nicht länger feindselig, sondern freundlich. Nicht kalt, nicht eisig, sondern schlichtweg lautlos bereitete er ein weiches Bett. Immer mehr Wolken erhoben sich wie graue Krieger, doch ihre Waffen klirrten nicht, ihre Todes schreie waren samtig und ihr Angriff eine blutlose Umarmung.
Noch wollte er sich nicht besiegt geben, aber als er darum kämpfte, seine Lider wieder zu öffnen – die Wimpern waren aneinandergefroren –, dachte er daran, wie er das erste Mal auf die Normannen getroffen war, erlebt hatte, wie leise der Krieg war und wie wenig gesprächig der Tod. So kam es ihm auch jetzt vor.
Als Balduin sich erneut umdrehen wollte, klatschte eine Schneeböe in sein Gesicht. Er hob den Kopf, um das Eis abzuschütteln, und wähnte den Himmel dort droben ein klein wenig heller – ein Zeichen, dass sich das Wetter besserte? Oder das silbrig glitzernde Antlitz der Wintergöttin?
Er wusste, dass die Heiden den Gott des Krieges für eine Frau hielten. ähnlich schön und ähnlich vernichtend musste wohl auch die Herrin des Winters sein, deren weiße, glatte Haare sich über die Rücken der Berge ergossen. Ohne jegliches Stöhnen und Schmatzen geriet ihr atemloser Kuss. Sie suchte nicht nur seine Lippen, um die Wärme aus dem Leib zu saugen, sondern streichelte jene sacht aus sämtlichen Gliedern. Sie drohten zu erschlaffen,abzusterben, kaum fühlte er noch Blut in seinen Fußspitzen und Fingern.
Er ergab sich der tröstlichen Müdigkeit nicht ohne Widerstand.
»Judith ! «, rief er wieder, »Judith ! «
Nicht sie antwortete ihm, sondern einer der Träger, der vor ihm schritt. Bislang hatte der kaum den Mund aufgemacht, und Balduin verstand ihn ob seines schweren Dialekts so gut wie gar nicht. Doch es war tröstlich zu sehen, dass jener sich immer noch kraftvoll durch die Schneemassen wühlte, gleichwohl
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