Das Geständnis der Amme
Bei jeder Silbe zuckte der feststeckende Pfeil auf grässliche Weise.
Balduin musste sich überwinden, um seinen Blick nicht abzuwenden. Noch schlimmer freilich als Audacers Verwundung war die Art, wie der ihn ansah. Eben noch war nur das Weiße sichtbar gewesen, nun fühlte Balduin die grauen Augen wieder auf sich ruhen – irgendwie verächtlich, irgendwie ärgerlich.
»Aber natürlich lebe ich!«, rief Balduin heiser. »Das hast dudoch gewusst, hast es als Einziger zumindest geahnt! Ich habe gehört, dass du es warst, der diesen Suchtrupp veranlasst hat …«
»Aber nicht, weil du noch lebst!«, fuhr Audacer ihm gurgelnd ins Wort. Er hustete, vielleicht versuchte er auch nur zu atmen. Ein Blutschwall ergoss sich aus seinem Mund, sickerte in sein Ohr, sein struppiges Haar und tropfte schließlich auf den Boden, der schwarz war von weiterem Blut.
Verwirrt blickte Balduin auf ihn herab. So warm und wohlig, wie ihn zuvor die Ahnung durchzuckt hatte, dass Audacer ihn doch lieben könnte, so bitter und kalt war die Einsicht, was sein Verhalten in Wahrheit bedeutete.
Er liebt die Menschen nur, wenn er sie verloren hat, dachte Balduin – viel nüchterner und klarer, als es der Moment eigentlich gebot.
Audacer hatte stets behauptet, sein Weib Hildegund zu lieben und seinem Sohn deren Tod nie zu verzeihen. Doch vielleicht hatte er diese Liebe erst verspürt, als sie ihren Geist ausgehaucht und damit besiegelt hatte, dass das Leben bösartig ist und dem Menschen raubt, was er für kostbar hält. Und auch jetzt war seine Verbitterung wider Balduin wohl nur gewichen, weil er dachte, er hätte den Sohn verloren und jener wiederum sein junges, kraftvolles Leben, das Audacer ihm stets geneidet hatte.
Nicht mein Wohlergehen bot ihm den Anlass, nach mir zu suchen, dachte Balduin. Er wollte nur ein Zeichen, dass das Leben es nicht gut meinte, nicht nur mit ihm, sondern auch mit mir. Hätte er mich tot gefunden, dann hätte er bei meinem Leichnam geweint, hätte ihn ehrenvoll bestattet und hätte den Normannen nie verziehen – ebenso, wie er Hildegunds Tod nie verwunden hat. Der Tod macht ihm die Menschen wertvoll, nicht das Leben.
Er fühlte, wie sich in seinen Augen Tränen sammelten, doch sie traten nicht über seine Lider.
»Du hast mich nie gewollt«, murmelte Balduin. »Du hast mich immer abgelehnt.«
Wenngleich diese Einsicht schmerzlich war, fühlte er sich im selben Augenblick erleichtert, weil er sie ungezwungen aussprechenkonnte. Doch Audacer schien zu ahnen, dass er – wollte er dem Sohn zusetzen – mehr zu tun hatte, als mit finsterem, verächtlichem Blick zu sterben.
Plötzlich wurde sein Blick ganz weich; der Grimm schwand daraus. Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.
»Balduin …«, murmelte er.
Was Balduin eben noch Gewissheit deuchte, geriet ins Schwanken. Vielleicht hatte er sich doch geirrt, vielleicht dem Vater Falsches unterstellt.
»Balduin, nimm mein Schwert!«, stöhnte Audacer. Nicht viele Worte blieben ihm übrig. »Nimm mein Schwert …«
Für gewöhnlich war es der Vater, der dem etwa zwölfjährigen Sohn das Schwert übergab und damit dessen Waffenfähigkeit besiegelte. Dieses Schwert würde dieser dann, wie ein jeder Krieger, bis zu seinem Tod behalten. Audacer hatte ihm jenes Ritual verweigert – bis jetzt.
Nun vermochte Balduin die Tränen nicht mehr zu halten, nicht aus Enttäuschung, sondern vor Rührung. Doch während sie ihm über die Wangen liefen, ächzte Audacer einen letzten Befehl: »Und nun geh hin und schlachte meinen Mörder.«
Balduin schluckte schwer. »Er ist kaum mehr als ein Kind, er hat meine Wunde geheilt und mir das Leben gerettet …«
Neues Blut floss aus Audacers Mund, nicht mehr frisch und rot, sondern zäh und dunkel … Wieder lächelte er, doch diesmal nicht freundlich, sondern bösartig. »Das Leben ist grausam – sei du es auch!«
Seine Augen verschwanden endgültig in ihren Höhlen, sein Griff erschlaffte. Als Balduin sich von Audacers Leib löste und sein Schwert fest umfasste, war sein Vater bereits tot.
Sie hatten die überlebenden des Kampfes zusammengetrieben, es waren kaum mehr, als man an beiden Händen abzählen konnte.
Es sind keine Kinder mehr darunter, durchfuhr es Balduin, als er das armselige Häuflein Menschen sah. Deren Wille zu kämpfen war erschlafft; es machte auch keinen Sinn mehr, denn siewaren der Waffen beraubt. Doch die wenigsten senkten ihren Blick. Wenn sie sich nun Gefangenschaft und Tod zu beugen
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