Das Gewicht der Liebe
hatte sie noch die Segelboote am Horizont betrachtet, doch der Anblick machte sie so traurig, dass sie aufhörte, auf das Meer hinauszublicken, sich stattdessen auf die Abermillionen Sandkörner zu ihren Füßen konzentrierte und sich klein fühlte, unbedeutend und sicher.
Simone wurde schwanger, und Johnny war außer sich vor Freude, umso mehr, als der Gynäkologe und seine Assistentin ihnen nach der Auswertung der Ultraschallbilder versicherten, dass ein Junge unterwegs sei. Merells Geburt war ein Schock für Simone und stürzte sie in die tiefste Depression ihres Lebens. Eines Nachmittags sah sie im Fernsehen eine Sendung, die sie davon überzeugte, dass auf der Neugeborenenstation des Krankenhauses ein Fehler unterlaufen sein musste: Eine unaufmerksame Kinderschwester hatte ihren Babyjungen gegen irgendein fremdes Mädchen vertauscht. Johnny, ihre Mutter und Roxanne taten ihre Sorge ab und schrieben ihre Stimmung dem typischen Wochenbett-Blues zu, versprachen ihr, sie werde sich in ein, zwei Wochen besser fühlen. Dr. Wayne, der Gynäkologe, erzählte ihr, es sei nicht ungewöhnlich, derlei Gedanken zu haben. Er nannte es postpartale Depression.
Merell beendete ihre Frisbee-Wurfübungen und schwang sich, nachdem sie sich zwei Kekse geschnappt und in die Tasche ihrer Bluse geschoben hatte, auf den ersten Ast des Pfefferbaums, ungefähr einen Meter fünfzig über dem Bo den. Dann griff sie nach dem darüberliegenden Ast und hangelte sich höher.
Als Simone Merell beim Klettern zusah, stockte ihr der Atem. »Sei vorsichtig«, schrie sie.
»Daddy sagt, das ist der beste Kletterbaum von San Diego.«
»Aber wenn du herunterfällst und dir sämtliche Knochen brichst, kann ich dich nicht wieder zusammensetzen.«
»Ich werde nicht herunterfallen, Mommy. Versprochen.«
Merell gehörte zu jenen Kindern, die mühelos alles erlernten, was sie wollten. Auf Bäume klettern, schwimmen, Rad fahren: alles fiel ihr leicht. Simone würde gern glauben, dass sie solch ein starkes und talentiertes Kind geboren hatte, doch in den neun Jahren, seit Merell auf der Welt war, hatte sie sich niemals endgültig davon überzeugen können, dass das Mädchen wirklich ihre Tochter war.
Sie beobachtete, wie sich Merell zur Baumkrone hinauf arbeitete und dachte an all die Dinge, die sie selbst nie gemacht hatte, weil sie ihr zu riskant oder zu schwierig erschienen waren oder weil es ihr schlicht an Begabung dafür gemangelt hatte.
»Weißt du, dass ich noch nie auf einen Baum geklettert bin?«
Roxanne sprang auf. »Dann komm. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
»Jetzt? Ich bin schwanger.«
»Pass auf, wenn du auf einem Boot segeln kannst, kannst du auch auf einen Baum klettern. Da ist nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Du wirst es großartig machen.« Sie streckte ihr die Hand entgegen. »Ich werde dich nicht herunterfallen lassen. Niemals, Simone.«
»Versprichst du mir das?«
»Ich werde dich auf den ersten Ast heben. Du kannst dort bleiben oder höher klettern. Ganz wie du möchtest.«
Der Ast war gut einen Meter fünfzig vom Boden entfernt. Merell war hochgesprungen und hatte sich aus eigener Kraft auf den Ast geschwungen, doch Simone würde das niemals schaffen, und so verschränkte Roxanne die Hände zu einer Räuberleiter, um ihr den Aufstieg zu erleichtern, und während Merell klatschte und jubelte und dadurch die Zwillinge und Franny herbeilockte, stellte Simone den Fuß auf die Hände ihrer Schwester.
»Hoch mit dir!«, rief Roxanne. »Jetzt schwing das Bein darüber … Ja, so ist es gut.«
Und da saß sie nun, rittlings auf dem Ast, verblüfft und zitternd und auf die Köpfe der Zwillinge hinunterblickend.
Merell schrie von ihrem drei Meter höher gelegenen Hochsitz herunter: »Halt dich am oberen Ast fest und steh auf. Es ist ganz einfach, Mommy.«
Ganz einfach .
So gerne Simone es auch versuchen wollte, wünschte sie sich doch gleichzeitig wieder auf den Boden zurück; sie stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, den oberen Ast zu ergreifen und sich aufzurichten, und gleichzeitig malte sie sich aus, wie es wäre, wenn sie hinunterfiele, ohne Wasser unter ihr, das die Landung abmildern würde. Sie griff nach oben. Die raue Pfefferbaumrinde bohrte sich kratzend in ihre Handflächen.
Atme tief durch und zieh dich hoch. Tu es einfach, denk nicht nach, und was immer auch passiert …
Valli klatschte in die Hände.
»Höher und höher und höher«, kreischte
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