Das Gewicht der Liebe
ihrem Bauch und Mommy meinte, Franny soll den Mund halten, weil sie nicht zu unserer Familie gehört.«
»Wo warst du?«
»Oben auf der Treppe. Die Zwillinge waren mit ihren Schwimmreifen im flachen Wasser.«
»Warum bist du nicht geschwommen?«
»Ich habe versucht, mein Buch zu lesen.«
Merell straffte die Schultern, schniefte und blinzelte ein paarmal. Roxanne war noch nie zuvor aufgefallen, wie viel Würde ein Kind besaß, wie viel Stolz so ein kleiner Körper in sich trug.
»Erzähl mir das Geheimnis, Merell.«
»Olivia fing an zu schreien, und Mommy spazierte mit ihr herum, klopfte ihr auf den Rücken, damit sie ein Bäuerchen macht, weil das manchmal hilft, dass es ihr nicht mehr so wehtut, aber diesmal hat sie sich übergeben, direkt auf Mommy drauf. Olivia ist kein böses Baby. Sie ist ein gutes Baby und sie kann nichts dafür, wenn sie sich übergeben muss und schreit, weil es wehtut. Das ist nicht ihre Schuld.« Merell hielt eine Weile inne, und dann brach das Geheimnis, das sie so lange bewahrt hatte, aus ihr heraus, als würden die Worte von einem Albtraum gejagt.
»Mommy hat sie angeschrien: ›Sei still, sei still‹, und dann hat sie sie in den Swimmingpool geworfen. Ich habe gesehen, wie sie direkt auf den Grund gesunken ist. Dann ist Franny in den Pool gesprungen und hat Olivia herausgeholt.«
Roxanne war sprachlos, aber seltsamerweise, erschre ckenderweise überraschte sie Merells Geheimnis nicht. Die offizielle Version der Ereignisse hatte sie niemals überzeugt. Aber angesichts der vielen anderen Probleme hatten sie alle eine entscheidende Tatsache übersehen: Simone wäre niemals mit Olivia in den Pool gegangen. Sie hasste Wasser. Und wenn Roxanne das wusste, dann wusste es auch Johnny. Doch genau wie sie hatte er die einfachste Erklärung akzeptiert. Es war eine Art von gewollter Blindheit, eine freiwillige Entscheidung, nicht zu sehen, was sich direkt vor ihnen abspielte.
»Franny war wirklich wütend und hat Mommy angebrüllt, und Gramma Ellen sagte, sie soll ruhig sein, weil sie nachdenken muss. Dann sagte sie, sie gibt Franny fünftausend Dollar, wenn sie vergisst, was gerade passiert ist.«
Die untadelige Franny hatte sich bestechen lassen. Und jetzt war sie verschwunden.
»Aber weißt du was?«, sagte Merell. »Franny hat nicht mal zum Pool hingesehen. Sie ist auf dem Bauch gelegen und hat eine Zeitschrift gelesen. Sie hat sich erst umgedreht, als alle losschrien.«
»Aber du hast alles gesehen?«
»Mommy wollte Olivia ertränken. Deshalb habe ich 911 angerufen.«
Simone schickte Celia mit zwei Fünfzigdollarnoten nach Hause.
»Jetzt ist alles gut«, sagte sie, glühend vor Stolz über ihre eigene Großzügigkeit. »Ich komme zurecht. Wir sehen uns dann morgen früh.«
Sie setzte Olivia in ihren Stuhl in der Küche, auf dem Tablett vor ihr ein Häufchen hellorangefarbener Cheddarkäse-Cracker und eine Schnabeltasse mit Grapefruitsaft. Olivia grapschte sich eine Handvoll Cracker und stopfte sie sich in den Mund.
Simone suchte Dinge für ein Mittags-Picknick zusam men, und die Zwillinge sahen zu, wie sie Kartoffelchips und Fadenkäse und in Viertel geschnittene Orangen in eine Kühltasche mit blauem Eis packte.
»Wohin gehen wir?«
»Wir gehen uns Schiffe anschauen.«
Wenn Shawn im Bootsladen wäre, würde er sie viel leicht alle zu einem abendlichen Segeltrip einladen. Simone würde gern wieder vom Schiff aus den Sonnenuntergang sehen, doch ihre Hoffnungen und Träume waren nicht von Shawn abhängig. Sie würde sich im Laden, bei wem auch immer, erkundigen, wo sie sich für Segelstunden anmelden könnte, und dann gleich für zehn Stunden im Voraus bezahlen, oder vielleicht für zwanzig. Sie klopfte auf ihre Hosentasche, vergewisserte sich, dass ihre Kreditkarte da war, wo sie sie hingesteckt hatte.
Wenn du nur etwas tun würdest .
Wenn du nur nicht so hilflos wärst .
Sie würde die Segelstunden im Hafen von Shelter Island buchen und wieder zurück sein, bevor Johnny nach Hause käme und sie dieses Gespräch führen müssten. Natürlich würde er anfangs nicht erfreut sein. Er würde sagen, Segeln sei für eine schwangere Frau zu gefährlich. Wahrscheinlich würde er dann lachen und sagen, sie könne ja noch nicht einmal einen Ball fangen, wie sie da auf die Idee komme, sie wäre in der Lage, ein Segel zu hissen oder den Kurs zu halten? Er würde überrascht sein, wenn sie ihm erzählte, dass sie nach über zehn Jahren immer noch einen Palstek knüpfen konnte.
Es
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