Das Gewicht des Himmels
ganz einfach. Wenn alles gut ging, würde sie am frühen Nachmittag Lamy erreichen und nach einer kurzen Busfahrt in ihrem Hotel in Santa Fe einchecken. Sie würde ein paar Stunden ausruhen, früh zu Abend essen, sich gründlich ausschlafen und am Morgen ein Taxi zu der Adresse nehmen, die auf dem zurückgesandten Umschlag stand. Dort würde sie hoffentlich erfahren, wohin Agnete verzogen war. Das war es mehr oder weniger. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass der Plan mehrere Schwachstellen hatte, und Phinneaus wusste das sicher auch; das war einer der Gründe, warum er nicht wollte, dass sie allein verreiste. Schon die Frage nach dem Verbleib ihrer Tochter war nicht unproblematisch. Wen sollte sie fragen? Die Nachbarn? Sie sah sich im Geist von Tür zu Tür gehen und fragen, ob jemand Agnete Kessler kannte und so nett wäre, ihr, einer völlig Fremden, zu verraten, wohin Agnete verzogen war. Es war überhaupt nicht gesagt, dass Agnete jemanden darüber informiert hatte, und selbst wenn – was sollte die Leute dazu veranlassen, ihr diese Information weiterzugeben? Das Einzige, was für sie sprach, war ihre offenkundige Gebrechlichkeit. Wenigstens wird mich niemand für eine Stalkerin halten .
Doch dann fiel ihr ein, dass Agnetes Nachbarn aller Wahrscheinlichkeit nach Natalie kannten, und ihr kam die Erleuchtung. Die vielen Besuche über die Jahre waren bestimmt nicht unbemerkt geblieben. Natalie hatte ihr viel gestohlen, aber sie hatte Alice mit ihrem Tod auch ein ungeplantes Geschenk gemacht – das Wissen um Agnetes Existenz und zugleich einen Grund, sie zu kontaktieren. Der Briefumschlag lieferte das Bindeglied und erlaubte es ihr, die gewünschte Anonymität zu wahren. Sie konnte sich als jede beliebige Person ausgeben – eine Freundin der Familie, eine nahe Verwandte –, die die Nachricht persönlich über bringen wollte, weil sie wusste, wie nahe Natalie ihrer Nichte gestanden hatte. Alice war schockiert, wie schnell sie ihre Prinzipien über Bord warf und es mit der Wahrheit nicht mehr so genau nahm, beziehungsweise sie ganz ignorierte – erst bei Phinneaus und Saisee, dann bei fremden Menschen, vielleicht sogar einer unbekannten Tochter. Ich schulde dir Dank, Natalie. Ich hätte besser aufpassen sollen. Was hätte ich nicht alles von dir lernen können!
Ihre Gedanken flackerten wie Irrlichter über die Fensterscheibe. Was hätte ich sonst noch alles wissen können! Ruckartig durchzuckte sie das Bewusstsein der eigenen Schuld. Natalie und Thomas. Natalies Unfähigkeit, ein Kind zu bekommen; Alices Unfähigkeit, sich allein um eines zu kümmern. Hatte sie wirklich erwartet, ihre Schwester würde ihr helfen, ihr Kind großzuziehen, ohne den Vater zu kennen? Ohne Konsequenzen?
Alices einziger Versuch einer Intrige – sie hatte George Reston junior zugetragen, dass Natalie ihn erwähnt habe – war der Anfang vom Ende gewesen. George hatte natürlich bereitwillig alles ausgeplaudert, sobald Natalie ihm Fragen stellte: Aus welchem Grund hatte er mit Alice geredet? Warum hatte sie ihn angerufen? Und wann war sie im Sommerhaus gewesen? Schaudernd begriff Alice, dass ihre Schwester von Anfang an im Bilde gewesen war. Sie hatte gewusst, dass Thomas der Vater ihres Kindes war, sie hatte auf Alices zunehmenden Leibesumfang, ihre tiefe, egoisti sche Freude mit gequältem Schweigen reagiert. Diese ganze Hölle hatte Alice sich selbst zuzuschreiben, weil sie absichtlich nicht nur ihre Umgebung, sondern auch Natalies Befinden, das man ihr am Gesicht ablesen konnte, vollkommen ausgeblendet hatte.
Die wenigen Reisenden, die den Panoramawagen aufsuchten, nahmen ihre Anwesenheit nur kurz zur Kenntnis und gingen gleich weiter, den Blick starr auf die gegenüberliegende Waggontür gerichtet. Die Erkenntnis, dass sie das, was sie getan hatte, nicht wiedergutmachen konnte, äußerte sich in trockenen Schluchzern und heftigem Zittern. Niemand blieb stehen und fragte, was passiert sei oder ob sie Hilfe brauche. Offensichtlich war es sogar für Fremde deutlich, dass simple Trostworte keine Erleichterung bringen würden.
Als die Nacht endlich der Morgendämmerung wich, war Alice zu Tode erschöpft und fühlte sich wie gerädert. Der »Southwest Chief« überquerte die Grenze zu Colorado, als die Sonne aufging. Die Prärie erglühte im vorrückenden Licht, staubiges Weideland löste staubige Äcker ab, Vieh stand in Grüppchen zusammen. Der Zug raste an schäbigen Betonklötzen vorbei, die in jeder beliebigen Stadt hätten
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