Das Gewicht des Himmels
und sammelte die Papiere ein. »Das stimmt. Aber es wäre immerhin ein guter Ausgangspunkt.«
»Ausgangspunkt?«
»Für die Suche. Damit du sie finden und ihr die Wahrheit sagen kannst. Man weiß ja nicht, was Natalie ihr erzählt hat. Sie muss verstehen, dass du nicht …« Er schwieg, als er Alices Kopfschütteln bemerkte.
Sie hatte befürchtet, dass sie ihn irgendwann einmal enttäuschen würde – er hatte einfach eine zu hohe Meinung von ihr. Doch wann es so weit sein würde, hatte sie nicht gewusst. Vielleicht, wenn sie sich entschloss, körperliche Nähe zuzulassen – obwohl sie beide in einem Alter waren, in dem Perfektion eher einschüchternd als reizvoll wirkte. So war er nun einmal – ein Organisator, ein Problemlöser. Nichts befriedigte ihn mehr, als eine Lösung anbieten zu können. Aber dieses Problem konnte er nicht für sie lösen. Er ging davon aus, dass sie beide dasselbe wollten, dieselben Träume träumten. Und jetzt würde ihm klar werden, dass er sie überhaupt nicht kannte.
»Ich muss erst noch darüber nachdenken, Phinneaus. Ich danke dir für alles, aber ich muss jetzt eine Weile allein sein.«
»Du hast Angst.«
Natürlich habe ich Angst. Hör auf, von mir Sachen zu verlangen, die ich nicht fertigbringe . Sie zog den Pullover enger um die Brust. »Ich brauche Zeit.«
»Alice, Natalie ist tot. Die einzige Person, mit der du noch Krieg führst, bist du selbst. Lass mich dir helfen.«
Sie schüttelte den Kopf und flüchtete stolpernd in ihr Schlafzimmer. Sie schloss hinter sich ab, obwohl das völlig unnötig war und mehr dazu diente, sie drinnen zu halten als ihn draußen. Aber das alte, schlecht isolierte Haus ließ keine Geheimnisse zu. Er hatte das Geräusch des Schlüssels sicher gehört und würde gekränkt sein. Mit der Stirn gegen die Tür gelehnt, blieb sie regungslos stehen. Erst eine Minute später hörte sie die Küchentür zuknallen.
Saisee hatte ihr Zimmer schon aufgeräumt. Das Bett, letzte Nacht noch so behaglich, wirkte glatt und steril; die Kissen lagen aufgereiht nebeneinander, das Laken war straff gespannt und unter der Matratze festgeklemmt. Sie setzte sich auf die Bettkante und schlang die Haare im Nacken zu einem lockeren Knoten. Sie würde ihm ihre Sicht der Dinge nie begreiflich machen können.
Wie oft hatte sie auf diesem Bett gesessen und die Haare ihrer imaginären Tochter gekämmt oder war mit dem Dau men über das Grübchen zwischen ihren Augenbrauen gestrichen! Wie viele Jahre hatte sie ein stummes »Happy Birthday« gesungen, im Geist die Kleider für den ersten Schultag zurechtgelegt, eine kindliche Wunschliste für Weihnachten geschrieben! Hatte sie nicht unter den Nachhilfeschülern, die sich im Esszimmer versammelten, plappernd die Köpfe zusammensteckten und nervös ihre Hausaufgaben verglichen, immer auch ihre Tochter gesehen? Alles nur ein schöner Schein. Sie war eine Schein-Mutter, selbst in der Beziehung zu ihren Schülern. Sie hatte sie für ein, zwei Stunden, dann flogen sie wie Brieftauben zurück in ihre Nester und vergaßen sie, bis sie das nächste Mal in ihr Haus flatterten.
Phinneaus hatte natürlich recht. Sie war ein Feigling. Wenn ihre Tochter sie von Anfang an gekannt hätte, lägen die Dinge anders. Dann würde es ihrer Tochter nicht merkwürdig vorkommen, dass ihre Mutter sich an guten Tagen im Schneckentempo fortbewegte und an schlechten Tagen gar nicht. Die geschwollenen Gelenke ihrer Mutter wären ihr so vertraut wie die plumpen Plastikperlen der Spielkette, die sie als Baby zusammengeschoben und auseinandergezogen hatte. Die langen Stunden der Bettruhe hätten sie sich mit Märchen und Kinderliedern, Kreuzworträtseln und Halma spielen verkürzt. Das Kind hätte starke Arme und gelenkige Finger gehabt.
Aber so war es nicht. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt noch in das Leben einer Fremden, einer erwachsenen Frau zu drängen. Mit fünfunddreißig war ihre Tochter eine Erwachsene. Alices Vorstellungskraft reichte nur bis ins Teenageralter; sie wollte sich die Frau, zu der ihre Tochter herangewachsen war, nicht vorstellen, weil sie fürchtete, ihr genetisches Erbe in ihr zu entdecken. Natalie war tot, aber sie hatte gewonnen.
Vor ihr lag ein ganzer, endlos langer Tag. Schlafen konnte sie nicht. Immer am Rand ihres Häkelteppichs entlangzulaufen, brachte auch nichts. Also verließ sie das schützende Schlafzimmer, holte ihren Mantel aus dem Flur, zog Handschuhe an und wickelte sich einen Schal um Hals und Kinn. Die Luft
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