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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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nährte eine kleine, beständige Flamme in ihrem Herzen. Ich könnte meine Tochter sehen .

13
    D er Himmel war violett, als sie aus dem Zugfenster schaute, irgendwo mitten im Bundesstaat Kansas, der größer war, als sie es sich je vorgestellt hatte. Phinneaus hatte sie nach Newbern gebracht, eine Autostunde nach Süden, wo sie in den »City of New Orleans #58« einsteigen wollte, und hatte mit ihr bis zur Abfahrt des Zuges kurz nach Mitternacht auf einer harten Bank im Bahnhofsgebäude gewartet. Nach einer Woche voller Diskussionen über ihre Absicht, allein zu fahren, und über die Wahl ihres Transportmittels hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen. All das Zanken und Debattieren hatte Alice ausgelaugt, und sie machte sich Sorgen, weil Phinneaus trotz seiner Müdigkeit so spät noch zurückfahren wollte. Doch in seinem Zorn war er vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich gewesen, und sie hatte nicht die Kraft gehabt, einen weiteren Streit anzufangen. Als sie endlich ihren Platz im Großraumwaggon gefunden und der Schaffner ihr das Gepäck auf die Ablage gehoben hatte, verschlief sie fast die gesamten achteinhalb Stunden bis Chicago. Dann musste sie an der Union Station sechs Stunden warten, bis sie in den »Southwest Chief« nach Lamy einsteigen konnte, das knapp fünfundzwanzig Kilometer südlich von Santa Fe lag. Auch während dieser Fahrt schlief sie, und es war ihr gleich gültig, wie sie aussah oder ob jemand ihr Gepäck stehlen oder ihr eins über den Schädel geben würde. Sie war so lange keine Risiken mehr eingegangen, dass sie das Gefühl kaum noch kannte. Es war seltsam befreiend, nach so langer Zeit wieder einmal ihre körperlichen Grenzen auszutesten.
    »Das ist doch lächerlich«, hatte Phinneaus geschimpft. »Du solltest fliegen. Warum darf ich dir nicht ein Flugticket besorgen? Du könntest in vier Stunden dort sein statt in vierzig.«
    »Vielleicht will ich nicht in vier Stunden dort sein.«
    »Nein, du lässt dir lieber tagelang deine schmerzenden Gelenke durchrütteln. Ungeheuer vernünftig. Alice, das kannst du doch nicht machen.«
    Sie verspürte den Wunsch, auf etwas einzuschlagen, richtig fest, ohne dass ihr Körper unter dem Aufprall leiden würde, und begriff, dass er dieses »Etwas« wäre. »Sei still. Genau das hätte Natalie gesagt, wenn ich ihr je Anlass dazu gegeben hätte. Du kannst mir nicht alles abnehmen, Phinneaus.«
    Er hatte sie entsetzt angestarrt, und sie hatte ihre Worte beinahe bereut. Ihn mit ihrer Schwester gleichzusetzen war unentschuldbar, aber in diesem Fall stimmte es.
    »Abgesehen von der einen Stunde, die die Fahrt zum Phy siotherapeuten dauert, bin ich seit dem College praktisch nirgendwo mehr hingefahren. Ich schaffe es nicht, in einem Staat ins Flugzeug zu steigen und ein paar Stunden später fünf Staaten entfernt wieder auszusteigen. Ich brauche mehr Zeit, um das alles zu begreifen.« Ihr war nicht wohl bei diesen Sätzen, denn sie klangen so, als wollte sie Agnete tatsächlich kennenlernen und mit ihr reden. Dabei wollte sie sie nur finden. Das war Herausforderung genug.
    Im Bahnhof von Newbern hatte Phinneaus sie am Arm gepackt und einen letzten Versuch unternommen, sie umzustimmen. Er war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Alice, ich habe dich dazu gedrängt. Sogar der Arzt hat gesagt, dass du lieber nicht allein fahren solltest. Bitte sei nicht ausgerechnet in dieser Sache stur.«
    »Lieber nicht.« Sie betonte jede Silbe einzeln. »Phinneaus, du musst mich das auf meine Art regeln lassen. Ich rufe dich aus dem Hotel in Santa Fe an. Alles wird gut gehen, versprochen.« Und wenn nicht, wirst du es wenigstens nicht mitbekommen .
    Wie merkwürdig, dass sie jetzt auf einmal ihre optimistische Seite entdeckte, dachte sie, während sie im Panoramawagen hin und her schaukelte. Sie hatte auf der Fahrt durch die Ebene eigentlich schlafen wollen, aber ihre innere Uhr war dagegen, und so starrte sie aus dem länglichen Fenster in die Dunkelheit und sah nur ihr eigenes Spiegelbild. Sie hatte schon als kleines Mädchen nicht schlafen können, wenn es von ihr erwartet wurde. Immer hatte sie vor Sonnenaufgang die Augen aufgeschlagen und darauf gelauscht, wie das Haus langsam zum Leben erwachte, wie es in der Morgendämmerung ächzte und stöhnte und so ganz anders klang als am Abend, wenn es sich auf die Nacht vorbereitete. Hatte Agnete diese Angewohnheit auch? Aus der Ferne würde sie das wohl kaum herausfinden.
    Auf den ersten Blick schien der Plan

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