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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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draußen war eisig und roch nach Winter. Sie hielt beim Gehen den Kopf gesenkt und achtete auf Risse im Bodenbelag, auf die heimtückisch stacheligen Früchte des Amberbaums, auf vereiste Stellen. Die meisten Leute fanden sich in ihrer Wohngegend zurecht mithilfe der Häuser, an denen sie vorübergingen, und der Menschen, denen sie zuwinkten, Alice dagegen richtete den Blick nach oben und nach unten. Sie orientierte sich an dem Baum mit dem verlassenen Vogelnest, an den seltsamen Vertiefungen im Zement des Bürgersteigs, an der schäbigen Backsteinmauer um Mrs. Deacons Rosen und an der Pflanzschaufel, die, offenbar als Markierung, am Rand der Kirchenauffahrt im Boden steckte.
    Irgendwann vor Jahren hatte die Stadt aufgehört, eine Durchgangsstation zu sein, und war zu ihrem Zuhause geworden. Die Stadt hatte sie in sich aufgenommen, trotz Alices Bemühungen, sich abzuschotten, den Urteilen, Spekulationen und dem Mitleid zu entgehen – Letzteres hatte ihr am meisten zu schaffen gemacht. Aber Saisee, Frankie und Phinneaus hatten ihre Abwehrstrategien aufgeweicht. Sie hatten ihr immer wieder Brosamen auf den Weg gestreut, um sie aus ihrem Versteck in die Welt hinauszulocken. Sie erzählten ihr aufregende kleine Klatschgeschichten und pflanzten draußen Geschichten wie kleine Samen, um ihr das Gespenstische zu nehmen und sie als ein ganz normales Wesen aus Fleisch und Blut zu etablieren: Alice hat sich Frankies Erkältung geholt, Alice hat Mrs. Whittakers Maisbrot geschmeckt, Alice findet, der Elternbeirat sollte eine Benefizveranstaltung abhalten, damit die Schulbücherei aufgestockt werden kann . Sie hatte die beiden wirklich nicht verdient. Und Phinneaus? Schon jetzt sehnte sich ihre Hand nach seinem dünnen Flanellhemd und ihre Wange sich nach seinen kratzigen Bartstoppeln.
    Sie kreiste noch zweimal um den Block, bis sie innerlich ruhiger geworden war, bis ihren Füßen das Gehen und ihrer Lunge das Atmen schwerfiel. Als sie zurück ins Haus kam, wartete Saisee schon mit dem Mittagessen: heißer Tee, ein Rindfleisch-Gemüse-Eintopf und ein Teller Cracker mit einem Töpfchen scharfem Pimentkäse-Dip. Die Haushälterin lehnte mit verschränkten Armen an der Spüle und hatte die Brauen hochgezogen, als warte sie auf eine Entschuldigung.
    Alice blickte ihre Haushälterin und Freundin an. »Sie wissen Bescheid, oder?«
    »Keine Ahnung, wovon Sie reden.«
    »Der Pimentkäse hat Sie verraten. Sie machen ihn immer nur, wenn Sie mich zu etwas nötigen wollen.«
    Saisee zog die Nase kraus. »Nich’ meine Schuld, dass die Wände hier so dünn sind.«
    Alice schob den Teller von sich weg und legte den Kopf auf den Tisch.
    »Sie werden doch wohl den leckeren Eintopf essen, den ich für Sie gekocht habe?«
    »Keinen Hunger.«
    Saisee klatschte sich mit der Hand gegen den Oberschenkel, und Alice zuckte zusammen. »Machen Sie mich nich’ noch wütender, als ich schon bin. Jetzt hören Sie mir mal zu. Sie haben nich’ das Recht, jemandem vorzuschreiben, was er über Sie denken soll. Ob er was mit Ihnen zu tun haben will oder nich’. Dieses Mädchen hat das Recht …«
    »Sie ist kein Mädchen mehr, Saisee.«
    »Sie wissen, was ich meine. Diese Person hat das Recht zu erfahren, was passiert ist.«
    »Warum? Weil mich das entlastet? Und was ist mit ihr? Natalie hat sie zwei Mal jährlich besucht, seit sie ein Baby war, Saisee. Agnete muss sie geliebt haben. Wahrscheinlich weiß sie nicht mal, dass Natalie tot ist. Wie kann ich diese Beziehung schlechtmachen, nur damit ich einen Platz in ihrem Leben ergattere? Wäre ich damit nicht genauso grausam wie Natalie?«
    »Sie haben Miss Natalie nie schlechtgemacht, als sie noch am Leben war. Ich denk’ nich’, dass es jetzt notwendig ist. Die Wahrheit will ans Licht. Das ist immer so.« Saisee setzte sich neben Alice und strich ihr über die Haare. »Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie Ihre eigene Tochter nich’ sehen wollen?«
    Sehen. Das war das Wort, das in ihrem Kopf den Schalter umlegte und das Nachdenken in Gang setzte. Eigentlich musste sie ja mit Agnete nicht sprechen. Vorausgesetzt, ihre Tochter wurde gefunden, konnte sie sich dann nicht einfach nur ihr Gesicht anschauen? Sich ihr so weit nähern, dass sie den Klang ihrer Schritte hörte, sich die Neigung ihres Kopfes und die Krümmung ihrer Finger einprägen konnte? Das war halb List, halb Täuschung – genauso hätte Natalie gehandelt. Aber die Idee hatte sich bereits verselbst ständigt, lief in ihren Gedanken Amok und

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