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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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glaube ich Ihnen einfach. Er war unglaublich begabt. Sehr bedauerlich, dass er nicht mehr malt.«
    Nicht nur das war sehr bedauerlich. Alice stemmte sich mühsam hoch und wankte einen Moment lang. »Vielen Dank für den Kaffee. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.«
    »Ganz im Gegenteil, ich danke Ihnen. Ich habe lange nicht mehr an Bayber gedacht. Es war sehr schön, seine Bil der wieder einmal anzuschauen, wenn auch nur in einem Buch.« Er stand auf und beugte sich zu ihr vor. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Vielleicht sehen wir uns noch, falls Sie länger in der Stadt bleiben.«
    »Vielleicht.«
    Sie hatte nur noch einen Wunsch – möglichst schnell ins Hotelzimmer zurückzukehren. Kraftlos schob sie sich an den Touristen vorbei, die vor Geschäften standen oder paarweise Hand in Hand durch die Straßen schlenderten. Sie machte einen Bogen um die Tische vor den Cafés und die großen Skulpturen vor den Souvenirläden. Der Lift im Hotel brauchte aufwärts länger als abwärts, das Türschloss sperrte sich, das kleine rote Licht über dem Griff weigerte sich beharrlich, grün zu werden. Als sie endlich das Sicher heitsschloss hinter sich verriegelt hatte, ging sie zu der hölzernen Gepäckablage, schob die Hand unter die unausgepackten Kleider und tastete auf der Suche nach der schweren, dicken Socke über den Boden des Koffers. Sie zerrte sie hervor und zwängte die Hand tief hinein, bis sie ganz unten kühles Porzellan spürte. Dann holte sie den glänzend blauen Azurbischof heraus und sank zu Boden.
    Er war nicht gealtert. Er kauerte vorgebeugt auf einem der Ledersessel in ihrem Zimmer und flüsterte ihren Namen. »Alice.« Dann: »Bist du wach?«
    Sie war wach, daran bestand für sie kein Zweifel, und sie kniff die Augen zu, um ihn nicht sehen zu müssen, aber da stellte sie fest, dass sie schon geschlossen waren.
    »Alice.« Seine Stimme klang jetzt drängender, fordernder.
    »Ich habe es nicht gewusst.«
    »Du hast sie vor mir versteckt.«
    »Nein, das hätte ich nie getan. Ich wusste nicht, dass sie am Leben war, Thomas. Ich habe genauso viel von ihrem Leben versäumt wie du.«
    Er stand jetzt vor dem Bett und starrte auf sie hinunter. Als er die Hand ausstreckte, zuckte sie zurück, aber er strich ihr nur über die Wange, und die Wärme seiner Finger flutete über ihr Gesicht. Seine Hände waren so lang und schlank, wie sie es in Erinnerung hatte, und leuchteten im Dunkeln wie bleiche Signalfeuer.
    »Du hast es mir nicht erzählt, weil du nicht genug Vertrauen zu mir hattest?«
    »Du wärst nicht gerne Vater geworden.«
    Er setzte sich auf die Bettkante, und sie rutschte ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie legen konnte. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Hast du mich so gut gekannt?«
    Sie schüttelte den Kopf. Aus ihrem tiefsten Inneren stieg ein gequältes Schluchzen auf. Das konnte sie nie wiedergutmachen. Mit einer einzigen Entscheidung hatte sie in das Leben von drei Menschen eingegriffen und sie in scharf kantige Einzelteile zerbrochen. Hatte sie ihn so sehr verletzen wollen? »Ich hätte es dir sagen sollen.«
    Er schlang ihr einen Arm um die Taille und zog sie an sich. Sie legte die Hände gegen seine feste, harte Brust und fühlte, wie sie sich hob und senkte, während sein Herz regelmäßig schlug. Mit jedem Atemzug sog sie eine vertraute Mischung von Gerüchen ein – das frisch gewaschene Leinenhemd, Leinöl und Terpentin, dumpfes Tabakaroma, Graphitpulver.
    »Wäre aus uns eine Familie geworden, was meinst du?«
    »Wir hätten es versuchen können.« Er streichelte ihr über die Haare, und sie legte den Kopf unter sein Kinn. Ihr Körper schmiegte sich instinktiv an ihn, in einer Haltung, die im Gedächtnis ihrer Haut, ihrer Muskeln, ihrer Knochen gespeichert war.
    »Natalie hat es dir erzählt.«
    Seine Augen waren geschlossen, und er lag so still da, dass sie sich fragte, ob er nicht doch tot und als Traumbild zu ihr zurückgekehrt war. »Sie hat dafür gesorgt, dass ich es herausfand.«
    »Hast du mich gesucht?«
    »Ich habe euch beide gesucht. Aber du warst schon davongeflogen.«
    Sie wachte auf dem Fußboden auf, als sich die Morgenröte durch die Fenster ins Zimmer stahl. Die Finger ihrer linken Hand umklammerten den Vogel, und ihr kam der Gedanke, dass es doch eine passende Strafe wäre, wenn sie in dieser Haltung erstarren würden, für immer um die Freiheit gekrallt, die sie so verzweifelt einfangen wollte, die sie nicht loslassen konnte.

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