Das Gewicht des Himmels
durchaus etwas war, worauf man neidisch sein konnte. War es denn ein solch schweres Verbrechen, dass er sich auch ein wenig in Thomas’ Glanz sonnte? Wenn auch nur, um ein kleines bisschen von dieser Wärme zu empfangen?
Den Rest wollte er überhaupt nicht. Die Schlange der Frauen, die auf Thomas warteten, war lang, und die Zeit, die er mit jeder einzelnen verbrachte, entsprechend kurz. Wenn Thomas genug von einer Verehrerin hatte, erwartete er, dass sie sich ohne großes Gejammer davonstahl, um Platz für die nächste zu machen.
Konnte man es aushalten, jahrelang ohne eine ernsthafte, tief gehende Beziehung zu leben? Finch versuchte, sich ein solches Leben auszumalen, schaffte es aber nicht. Der Verlust seiner Frau hatte ihn schwer getroffen. Noch immer wachte er mitten in der Nacht auf und bemerkte, dass er die Arme nach ihrer Seite des Bettes ausgestreckt hatte, dass er ihren Umriss liebkoste. Das tat weh, aber schlimmer noch war die Vorstellung, sie wäre niemals ein Teil seines Lebens gewesen. Und dasselbe galt für Lydia. Ihr leichtes Lispeln, ihre Armbewegungen beim Gehen, die Art, wie sie an den Nägeln kaute, wenn sie über eine schwierige Entscheidung nachdachte – das alles hatte sich tief in sein Inneres eingeprägt und war nie wieder auszuradieren.
Es gelang ihm nicht, Schlaf zu finden. Die ganze Nacht lang wälzte er sich im Bett herum, bis er kurz vor Sonnenaufgang endlich aufgab und den Tag anging. Er musste allein mit Thomas reden, solange die Angelegenheit noch nicht weiter fortgeschritten war. Vielleicht hatte er ihm sein Wort gegeben, aber er war nicht verpflichtet, den Hampelmann zu spielen. Irgendwann am frühen Morgen hatte er beschlossen, keinen Fuß in den Mietwagen zu setzen, bevor sie nicht geklärt hatten, was Thomas wusste und was er eigentlich von ihnen wollte.
Ich habe einen klugen Mann geheiratet. Claires Stimme war alles, was er brauchte.
»Wer schlecht geschlafen hat, kann mit Sarkasmus wenig anfangen, mein Schatz. Jetzt mal ehrlich. Du fragst dich, warum ich mich nicht schon vor Jahren zur Wehr gesetzt habe.«
Ich frage mich, was er im Schilde führt, Denny. Genau wie du.
Nach dem Frühstück wollte er Mrs. Blankenship anrufen, um Bescheid zu sagen, dass er vorbeikommen würde. Gerade war er dabei, die Nummer zu wählen, da klingelte das Telefon.
»Sie müssen sofort kommen«, keuchte Mrs. Blankenship.
»Ich wollte Sie gerade anrufen. Ich möchte Thomas heute Morgen besuchen.«
»Wir sind im Krankenhaus, Professor. Mr. Bayber hatte einen Schlaganfall.«
Seit mehr als einem Jahr war Finch nicht mehr im Krankenhaus gewesen. Es war trostloser als in seiner Erinnerung. Diese ganze künstliche Heiterkeit sollte beruhigend wirken: Hier herrschen Ordnung und Sauberkeit, hier heilt der Chirurg, hier spenden Pillen Trost, hier haben wir feste Zeitpläne für unsere Prozeduren. Man begriff jedoch bald, dass dies nur schöner Schein war, wenn man das Stöhnen der Patienten in ihren Betten und das Turnschuh-Getrampel der Pfleger beim Schieben der Betten hörte, die grauen Wäschekarren der Reinigungskräfte sah und den Geruch von Krankheit und Blut in den Laken wahrnahm.
Mrs. Blankenship, die in Thomas’ Apartment so energisch und zupackend agierte, hatte sich im Warteraum in ein weinendes Häufchen Elend verwandelt.
»Er lag auf dem Boden, als ich heute Morgen in die Wohnung kam«, schluchzte sie und tupfte sich das rosige Gesicht mit einem Taschentuch ab, das Finch ihr gereicht hatte. »Ich habe sofort einen Krankenwagen gerufen, aber sie haben furchtbar lange gebraucht. Immer wieder habe ich ihm gesagt, dass sie gleich kommen werden. Aber ich weiß nicht, ob er mich gehört hat.«
»Ganz bestimmt.« Finch sah sich nach einem Arzt um, fand aber keinen und tätschelte Mrs. Blankenship die Schul ter. Dann ging er zum Anmeldeschalter, wo er von drei Krankenschwestern gleichzeitig ignoriert wurde. Nachdem er sich erfolglos geräuspert hatte, griff er nach einem Kugelschreiber, an dessen Ende eine lange Kunstblume befestigt war, und steckte ihn sich in plötzlicher Gereiztheit hinters Ohr. »Bayber«, sagte er. »Thomas Bayber. Ich möchte seine Zimmernummer.«
Die Schwester, die ihm am nächsten saß, bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und streckte die Hand aus. Er gab ihr den Stift mit der Blume zurück. »Vierter Stock. Gehen Sie nach links«, erklärte sie. »Dann halten Sie sich rechts. Dahin wird er aus der Notaufnahme verlegt. Sie können mit dem Arzt sprechen,
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