Das Gewicht des Himmels
auf dem Sitz. Er spürte, wie ihm die Galle hochkam, und von hinten roch er die Bananenschalen, die ihren angenehm tropischen Duft schon lange verloren hatten. Im Auto dampfte es wie in einem übel rie chenden Dschungel. Die Scheibenheizungen funktionierten nicht richtig, sodass sich warme, feuchte Luft unten am Glas staute wie geisterhafter Atem. »Ich war in Rom. Wollte mir Caravaggios Matthäus-Zyklus anschauen, darum war ich gerade auf dem Weg zur Contarelli-Kapelle in der Kirche San Luigi dei Francisi.«
»Und?«
»Ich hab mir den Zyklus angesehen.«
»Das meinte ich nicht.«
»Ehefrau oder Vater, das ist nicht dasselbe.«
»Vielleicht doch.«
Stephen sah auf den Boden. Die genoppte Fußmatte war voller Krümel und Matsch. Der Regen klopfte heftig gegen das Autodach. »In zwanzig Meilen kommt die nächste Ausfahrt. Da können wir den Müll wegwerfen. Außerdem brauche ich noch ein paar Bonbons.«
»Selbstverständlich können Sie mir jetzt sagen, dass Sie nicht darüber sprechen wollen.«
»Ich will nicht darüber sprechen.«
Finch warf einen Blick in den Rückspiegel und trat fest auf das Gaspedal, wodurch das Heck des Wagens ausbrach. Reflexartig warf Stephen beide Hände ans Armaturenbrett. Finch sah Stephen an und lächelte. »Das ist vollkommen in Ordnung.«
Stephen spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. »Wollen Sie uns umbringen?«
»Vielleicht. Wie Sie schon erwähnten, ist es wahrscheinlicher, im Auto zu sterben als im Flugzeug. Aber Sie dürfen gerne einmal selbst ans Steuer.«
»Das würde Ihnen ganz recht geschehen. Ich fahre wahrscheinlich auch nicht viel schlechter als Sie.«
»Kann sein.«
Stephen presste das Gesicht an die kalte Seitenscheibe und schloss die Augen. Sein Magen schlug Purzelbäume, und auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. Der Verkehr war dichter und langsamer geworden, die Fahrtstunden, die ihnen noch bevorstanden, kamen ihm endlos vor. Wenn sich sein Magen noch ein einziges Mal bemerkbar machte, würde er bei der nächsten Raststätte aussteigen und den Rest zu Fuß gehen.
Er starrte hinüber in das Auto, das auf der Spur neben ihnen fuhr. Ein Kind mit verklebtem Mund ließ ein Stoffpferdchen am Fenster vorbeigaloppieren. Stephen musste an die Höhlenmalereien in Lascaux denken, an das Wildpferd und die aufgescheuchten Steinböcke, die älter als siebzehntausend Jahre waren und dabei so atemberaubend in ihrer Schlichtheit. Als wissenschaftlicher Berater war er 2003 dort gewesen. Er hatte den obligatorischen Schutzanzug, die Schuhüberzüge und den Mundschutz übergestreift und war in den axialen Seitengang vorgedrungen, wo ihm nach kurzer Zeit der Atem stockte. Angesichts der weißlichen Schimmelpilze an den Wänden musste er weinen; es sah aus, als würden die Pferde durch einen Schneesturm galoppieren. Stephens Vater hätte seine Reaktion verstan den. Er malte sich aus, wie sie nebeneinander in der dunklen, feuchten Höhle standen und gemeinsam die hervortretenden Linien aus Braunstein und Ocker, Kohle und Eisenoxid studierten.
»Ich war eine einzige Enttäuschung für ihn«, sagte er und wandte sich Finch zu.
Finch beschleunigte ein wenig und hielt den Blick ausnahmsweise auf die Straße gerichtet. »Ihr Vater war sehr stolz auf Sie.«
»Mein Vater wünschte sich immer, ich wäre anders. Meine Mutter übrigens auch. Sie hätten gern ein etwas normaleres Kind gehabt. Ist das nicht seltsam, dass Eltern sich so was für ihr Kind wünschen? Dass es weniger sein soll, als es ist?«
»Wenn man sich wünscht, das eigene Kind hätte einmal eine andere Entscheidung getroffen, dann wünscht man sich nicht gleich, dass das eigene Kind tatsächlich anders wäre.« Finch trat wieder auf die Bremse, und Stephen musste mehrmals hintereinander schlucken.
Finch nahm Stephens linke Hand und drückte sie fest. »Es gibt da einen Akupressurpunkt namens ›Vereinte Täler‹, er liegt zwischen Daumen und Zeigefinger. Drücken Sie mit dem Daumen auf den Ansatz des Zeigefingers, da, wo der Muskel hervortritt und die Falte endet. Nehmen Sie dazu den Zeigefinger der anderen Hand.«
»Und was soll das bringen?«
»Zunächst mal wird es Sie davon abhalten, sich im Auto zu übergeben.«
Stephen drückte seinen linken Zeigefinger auf die Stelle, von der er annahm, es seien die »Vereinten Täler« seiner rechten Hand. Er begann, rückwärts zu zählen, angefangen bei der Zahl sechzehntausendzweihundert – so viele Sekun den würde die Reise seiner Schätzung
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