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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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der am anderen Ende des Flurs wohnte, fünf Dollar gegeben, damit er ihren Koffer nach unten trug und auf den Rücksitz ihres 68er-Mustang legte. Ihr Vater hatte ihr das Coupé geschenkt, kurz bevor er zusammen mit ihrer Mutter auf dem Connecticut Turnpike starb. Sie waren gerade auf dem Rückweg von einer Vorstellung von »Promises, Promises« in der Stadt gewesen. Irgendwie ironisch, wenn man bedachte, wie oft ihre Mutter diese Worte ausgesprochen hatte, wenn ihr Vater wieder einmal versprach, in Zukunft nie mehr ein Abendessen im Familienkreis, eine Schulaufführung oder eine Benefizveranstaltung verpassen zu wollen.
    Ihre Mutter hatte vor der Frisierkommode gesessen und sich das Dekolleté gepudert – noch einen Tropfen Shalimar hinter die Ohren –, während ihr Vater mit den Theaterkarten in der Hand auf und ab ging, immer wieder auf die Uhr sah und mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche klimperte. Die Mutter hatte »I’ll Never Fall in Love Again« gesummt, und der Vater hatte Alice zugezwinkert, als er den Reißverschluss am Kleid der Mutter zuzog und in den Refrain einstimmte. Alice kannte die Melodie auswendig. Schon bei den ersten Noten hatte sich ihr Puls beschleunigt. Inzwischen musste sie immer wenn sie das Lied hörte, an ihre Eltern denken, wie sie nebeneinander im Auto gesessen und sich aneinandergeschmiegt hatten. Hatten sie den LKW überhaupt gesehen? Hatten sie einen kurzen Moment lang Panik empfunden? Und während dieser Tausendstelsekunden vielleicht an sie, Alice, gedacht?
    Miss Pym hatte in ihrer Akte geblättert, während sie Alice in ihrem stickigen Büro ausschimpfte. Die beiden vergangenen Jahre waren also sehr schwierig für Sie. Ihr Zustand – ein entschuldigendes Räuspern –, ich meine, Ihre Krankheit hat sich weiter verschlimmert, Sie haben Ihre Eltern verloren. Da mussten Sie sich bestimmt ziemlich umstellen.
    Die Eltern verloren – wer drückte sich denn so blöd aus? Als versteckten die Eltern sich vor ihr, und sie müsste bloß in allen Schränken nachsehen, bis sie sie wiederfand. Sie hatte sie nicht verloren. Sie wusste genau, wo sie waren. Mit dem Zeigefinger war sie über ihre Grabsteine gefahren. Sie standen Seite an Seite, genau so, wie die Eltern gestorben waren, nebeneinander im Auto, auf Sitzen, deren blauer Vinylbezug noch immer die Abdrücke von Alices Turnschuhsohlen aufwies.
    Natalie hatte keine Sekunde gezögert und die Erinnerung an die Eltern sofort restlos ausgelöscht. Sie hatte ihren Nachlass nicht Stück für Stück, sondern in einem großen Schwung weggegeben. Als Alice im Sommer nach dem drit ten Collegejahr nach Hause kam und die Tür zum Elternschlafzimmer öffnete, war es komplett ausgeräumt. Alles war verschwunden: Kleider, Schuhe, Hüte, die Dose mit den Liebesbriefen, die Geschenkpapierrollen mit den Weihnachtsanhängern – einfach alles. Ihre Bettlaken waren nicht mehr im Wäscheschrank, ihre Schlittschuhe und Tennisschläger nicht mehr auf dem Dachboden. Ihre Aschenbecher, die Untersetzer mit ihren ineinander verschlungenen Initialen – alles an die Heilsarmee gespendet. Warum sollte man sich auch mit Dingen umgeben, die einen ständig an die Vergangenheit erinnerten?, meinte Natalie. Sogar der Geruch der Eltern war verflogen. Jetzt roch alles nach irgendeinem Fichtennadelreiniger, von dem Alice schlecht wurde. Das Einzige, was sie retten konnte, war das Rohrblatt aus dem Fagott ihres Vaters; es lag noch immer in der alten Mercurochrome-Flasche im Medizinschränkchen.
    Das Zuhause ihrer Kindheit wurde für Alice bald zum Gefängnis. Therese, die eine Schwäche für Natalie hatte, mit Alice aber weniger gut auskam, putzte während Alices Ferien den ganzen Tag über das Haus. Sie wischte jeden Atemhauch vom Spiegel, jeden Fußabdruck vom Flurboden. Alice konnte die sklavische Hingabe der Frau nicht verstehen, es war ihr auch ein Rätsel, wie sie in einem Haushalt, der um drei Mitglieder dezimiert war, immer noch genügend Aufgaben finden konnte. Natalie jedoch bestand darauf, sie zu behalten, und sagte zu Alice: »Du weißt nicht, wie schwierig es für mich ist, das Haus alleine in Schuss zu halten. Du bist ja nie da. Ich schon.«
    Die Geister ihrer Eltern wandelten durch die Flure, auf der Suche nach ihren irdischen Besitztümern. Nachts konnte Alice sie hören, sie hörte ihre gedämpften Stimmen, während sie sich in den Laken herumwälzte. Liebling, hast du meine Schürze irgendwo gesehen? Ich habe sie vorhin in die Küche gehängt, und

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