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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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nach noch dauern. Selbst für einen Bayber, den noch niemand gesehen hat, ist das viel verlangt, dachte er. Heiße Luft blies gegen seine Wangen, und ganz allmählich dämmerte er weg. Er träumte von Chloe, von ihrem feuchten Atem, wenn sie ihm etwas ins Ohr flüsterte, dann von Natalie Kessler, so, wie sie auf dem Bild zu sehen war. Ihr gebräunter Arm kam hinter der Lehne des Sofas hervor und bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen.

6
    Oktober 1971
    A lice fuhr allein zum Sommerhäuschen. Sie sagte Natalie nichts davon, dass sie ein paar Tage Urlaub machen wollte, weil sonst der ständige Streit über die Kosten ihres Studiums vielleicht von Neuem aufgeflammt wäre. Natalie hätte darauf bestanden, dass Alice nach Hause kam, wenn sie schon so bald nach dem Beginn ihres Graduiertenstudiums eine Auszeit brauchte. Das wäre billiger gekommen. Aber nach Hause – wenn man das, was davon übrig geblieben war, überhaupt so nennen konnte – wollte Alice auf keinen Fall.
    Das, wovor sie die Flucht ergriff – die Uni, die Relikte der Familie, die Trauer und der wachsende Schatten ihres Verfalls –, blieb draußen vor den Fenstern des Autos. Das Summen der Reifen wirkte irgendwie hypnotisch und machte sie müde. Sie fuhr in die Sonne hinein, und von überall her strahlte Wärme auf sie ab: vom Vinyl des Armaturenbretts, vom Lenkrad unter ihren Händen, durch die Scheiben hindurch. Nur ein kleiner Strahl kalter Luft drang herein, nämlich durch das Ausstellfenster auf der Fahrerseite, das sich nicht mehr ganz schließen ließ.
    Schläfrigkeit. War es das, was ihre Eltern vor zwei Jahren überkommen hatte? Hatten sie sich damals im Auto, umschlossen von der Nacht, so sicher und warm gefühlt, dass sie einfach hinüberdämmerten? Nein. Sie hatte sich ihre Eltern in dieser Nacht schon tausend Mal vorgestellt, in solcher Klarheit, dass sie jetzt partout nicht das Radio einschalten konnte, auch wenn es sie wach gehalten hätte. Wenn sie nur die Hand an den Schalter legte, zuckte sie schon zusammen. Ihr Vater hatte sicher laut und falsch mit gesungen, und ihre Mutter hatte sich lachend die Ohren zugehalten. Und er hatte sie auf diese Art angeschaut, wie er es manchmal tat, wenn er sich unbeobachtet fühlte, und ihr ein einziges Wort zugeflüstert, ein Wort einer geheimen Sprache, zu der ihre Töchter keinen Zugang hatten. Hatte er eine Hand vom Lenkrad genommen, um nach ihrer behandschuhten Hand zu greifen und sie an seine Lippen zu führen?
    Der Polizist, der an diesem Novemberabend an der Tür geklingelt hatte, war blass gewesen und nicht viel älter als sie selbst. Er hielt den Kopf gesenkt, als laste die Nachricht, die er überbringen musste, schwer auf ihm. Sie ließ ihn auf der Türschwelle stehen, obwohl der Schnee um ihn herum wirbelte, weil sie Angst hatte, dass alles doch wahr werden könnte, wenn sie ihn hereinbat. Aber es war ohnehin wahr. Als sie ihn aufforderte, die Geschichte noch einmal zu erzählen, sagte er immer wieder: Wir wissen einfach nichts Genaues.
    Die Stille im Auto wurde ohrenbetäubend. Alice redete mit sich selbst, sagte ihre ganz eigene Version des Alphabets auf: die volkstümlichen Namen der Vögel, von A bis Z, von Amsel bis Zaunkönig. Danach machte sie das gleiche Spiel mit den wissenschaftlichen Namen der Vögel, von Accipiter gentilis – dem Habicht – bis zu Zonotrichia leucophrys – der Dachsammer.
    Für den Weg von der Uni bis nach Seneca Lake hatte sie sechseinhalb Stunden veranschlagt, aber sie hatte nicht mit den vielen Pausen gerechnet, die sie brauchte, um sich die Steifheit aus den Fingern zu massieren. Auf halber Strecke hielt sie an und parkte an einer Stelle, wo sich das Gras von frischem Grün schon in sprödes Gold verfärbt hatte. Die Nachmittagsluft roch nach Dingen, die sich vor dem Herbst verkrochen hatten. Die Blätter der Buchen rollten sich ein, und eine Felsenbirne leuchtete tiefrot. Nachdem sie sich aus dem Auto geschält hatte, streckte sie sich und drückte die Handflächen auf die warme Motorhaube. Immer wenn der Schmerz aufflammte und leise Panik in ihr aufsteigen ließ, machte sie sich klar, dass es eine Erleichterung wäre, einfach zu verschwinden, wenn auch nur für kurze Zeit.
    Gerade fünf Wochen war sie im Graduiertenstudiengang und noch erschöpft vom Ankommen, Auspacken und den vielen neuen Gesichtern, als sie in einen Disput mit ihrer Studienberaterin geriet. Miss Pym äußerte Zweifel daran, dass Alice in ihrem augenblicklichen Zustand die

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