Das Gewicht des Himmels
jetzt ist sie weg. Oder ihr Vater, der missmutig nach seiner besten Krawatte suchte, dunkelblau und golden, mit einem winzigen Fleck an der Spitze. Deine Mutter mochte diese Krawatte nie. Sie hat sie irgendwo versteckt, nicht wahr, Alice?
Seit acht Jahren war sie nicht mehr im Sommerhäuschen gewesen. Myrna Reston, die sich seit dem Skandal um die Investmentfirma ihres Mannes weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, überließ die Vermietung des Hauses ihrem ältesten Sohn George junior, der in einer untergeordneten Position in der Firma seines Vaters arbeitete. Er brachte keinen großen Ehrgeiz auf, denn er würde die Firma ja doch eines Tages erben. Alice konnte sich schwach an ihn erinnern: ein Teenager mit Akne-Narben im Gesicht, der versucht hatte, ihr einen Gartenschlauch in den Ausschnitt des Badeanzugs zu stecken, als sie noch in der Grundschule war. Zum Glück kannte er sie nur noch als die kleine Schwester von Natalie. Als sie anrief, um sich nach dem Häuschen zu erkundigen, schien er angetan davon, von ihr zu hören – und außerdem ein bisschen Miete in der Nebensaison zu kassieren.
»Du kannst es zu einem Spottpreis mieten, Süße«, sagte er. »Morgens ist es vielleicht ein bisschen kalt, aber ich bitte unseren Hausmeister, dir etwas Feuerholz ins Haus zu legen. Zu dieser Jahreszeit ist nicht viel los im Ort. Die meisten Geschäfte haben schon dichtgemacht. Aber du kannst Lebensmittel bei Martin’s kaufen und auch alles andere, was du vielleicht brauchst.«
Alice versicherte ihm, dass sie nicht zum Einkaufen komme, sondern nur ein paar Tage Erholung von der Uni suche.
»Haben die Kurse nicht gerade erst angefangen?«
»Dieses Semester habe ich einen individuellen Stundenplan. Ich brauche einen ruhigen Ort, an dem ich arbeiten kann.«
»Aha. Wie geht es übrigens Natalie?«
George war genauso vernarrt in Natalie gewesen wie alle anderen, aber durch seine ungewöhnliche Mischung aus Arroganz und Dummheit hatte er viel aufdringlicher ge wirkt als der Rest. Er hatte ihr alle Wünsche von den Augen abgelesen, auch solche, von denen sie gar nichts wusste. Er hatte ihr bei Prüfungen die Lösungen verraten und mögliche Rivalen durch böse Gerüchte auf Abstand gehalten. Natalie hatte ihn an der langen Leine gehalten, ihm ab und zu ein freundliches Wort gesagt oder mit den Wimpern geklimpert, wenn sie gerade etwas brauchte. Als Alice noch jünger gewesen war, hatte sie ihn bloß für einen Störenfried gehalten, aber als sie älter wurde, begriff sie, dass er tatsächlich etwas Bösartiges an sich hatte, was man kaum als die Launen eines Teenagers abtun konnte.
»Natalie geht es gut, danke. Ich glaube, sie hat neulich von dir gesprochen. Ich richte ihr aus, dass du nach ihr gefragt hast. Und das Angebot mit dem Holz nehme ich gerne an.« Die Lüge kam ihr ohne Zögern über die Lippen.
»Der Hausmeister legt dir den Schlüssel unter die Fußmatte. Du musst mir nur noch sagen, wann du kommen willst, dann lasse ich alles arrangieren.«
»Morgen«, erwiderte sie. »Wenn das möglich ist, würde ich gerne morgen kommen.«
»Na, das ist aber kurzfristig.«
Alice hielt den Atem an.
»Ich rufe den Hausmeister gleich an. Vielleicht kriegen wir das hin. Aber ich muss dann leider ein bisschen was extra berechnen.«
Sie hatte befürchtet, das Haus wäre im Vergleich zu ihren Erinnerungen geschrumpft. Aber nichts hatte sich verändert, nur die Stimmen ihrer Familienmitglieder fehlten. Das Sommerhäuschen war immer voll von Menschen und Dingen gewesen, und jetzt, als sie ihren Koffer auf dem Holzboden abstellte, hallte das Geräusch durch die leeren Räume. Es ist so friedlich hier, sagte sie sich. Das ist es doch, was du wolltest . Aber es war auch einsam.
Evan, George Restons Hausmeister, hatte einen Stapel Holz neben den Kamin geschichtet und die Fenster zum Lüften geöffnet. In den Räumen roch es ganz leicht nach Moder, nur nicht in dem Schlafzimmer, das sie sich so viele Sommer mit Natalie geteilt hatte. Dort, in dem Zimmer mit den dicken Holzbalken unter der Decke und den Wänden aus Kiefernholz, war die Luft trocken und roch nach Zeder. Alice erinnerte sich, wie sie und Natalie eng umklammert auf den dünnen Matratzen auf- und abgehüpft waren und vor Freude gekreischt hatten, wenn ihr Vater nachts draußen am Fenster kratzte und so tat, als wäre er ein Bär. Wie dreckig ihre Fingernägel immer gewesen waren vom Saft der Himbeeren aus dem Wald! Und der Tag, als Natalie im
Weitere Kostenlose Bücher