Das Gewicht des Himmels
uns sollte es versuchen.« Alice stand auf und setzte sich neben ihre Schwester. Sie nahm Natalies Tau, biss sich auf die Unterlippe und fing von Neuem mit der Aufgabe an.
Natalie lächelte sie an und drehte sich auf den Bauch. »Gib dir Mühe mit meinen, ja?«
Wenn Alice sich an diesen Sommer erinnerte, dachte sie nicht daran, wie sie mit ihrem Vater in den Ort geradelt war oder wie sie die elegante Handschrift ihrer Mutter auf den Postkarten an die Verwandten bewundert hatte. Auch nicht daran, wie sie abends zwischen ihren Eltern gesessen und beobachtet hatte, wie ihr Vater das Haar ihrer Mutter streichelte, während die Sterne am Himmel aufzogen. Nein, es war das Gefühl des glatten Taus zwischen ihren Fingern, die warmen Münzen in ihren Handflächen und Natalies Zwinkern, wenn der Vater seinen beiden Töchtern jeweils die gleiche Anzahl an Vierteldollarstücken auszahlte.
Ihr Körper rebellierte nach der langen Autofahrt am Vortag, aber damit hatte sie ohnehin gerechnet. Immer wenn die Krankheit aufflammte, musste sie einen Ruhetag einlegen, bis der Status quo wiederhergestellt war. Sie legte sich in die Badewanne, und als das Wasser über ihre Haut lief, erinnerte sie sich an das Körpergefühl in ihrem Traum: flüssig und geschmeidig. Über die Zimmerdecke liefen Spinnen im Zickzack, um dem aufsteigenden Dampf zu entrinnen. Sie band sich die Haare hoch, zog sich wieder an, nahm eine Decke aus dem Korb neben dem Kamin und machte sich auf den Weg zum See. Die Sonne blitzte auf dem Wasser und blendete sie. Das Boot war am üblichen Platz; winzige Wellen krochen an den verbeulten Seiten entlang. Alice breitete die Decke aus, kletterte in das Boot und legte sich hinein. Das Wasser schaukelte sie sanft, und die Sonne wärmte ihre Haut, bis sie sich vorkam wie geschmolzener Zucker, der zu weichem Gold geworden war.
Dass sich das Boot von der Anlegestellte gelöst hatte, begriff sie erst, als sie die Abwesenheit von Land bemerkte. Auch der vertraute Holzduft fehlte: die Planken der Anlegestelle, die sonnengewärmten Baumrinden, die harzigen, verzogenen Dachziegel des Hauses. Um sie herum war nur noch Wasser. Sie setzte sich auf und erstarrte, als sie sah, wie weit sie auf den See hinausgetrieben war. Aber das Wasser war ruhig, und die Riemen steckten sicher in den Dollen. Sie glitt auf den Sitz und öffnete die Haare, damit die Brise sie trocknete. Vielleicht konnte sie es mithilfe einiger Windstöße schaffen, aus eigener Kraft zurückzurudern; wenn nicht, konnte sie immer noch ein vorbeikommendes Boot um Hilfe bitten. Aber die Saison war vorbei, und es war weit und breit kein anderes Boot zu entdecken.
Mit den Händen fuhr Alice über das narbige Holz der Riemen. Hier draußen auf dem Wasser fiel ihr das Denken leichter. Wie sollte es weitergehen in ihrem Leben? An Land waren ihre vielfältigen Einschränkungen kaum zu übersehen. Aber hier, weit weg vom Ufer, empfand sie eine Art Leichtigkeit. Das Boot trieb sicher auf der Oberfläche, und die schwachen Wellen schwappten in einem regelmäßigen Rhythmus unter ihr hindurch. Der Wind frischte auf und beulte ihre Bluse wie einen Spinnaker. Über ihrem Kopf verknoteten sich die blassen Wolken ineinander, lösten sich wieder auf, wurden dunkler und heller und wieder dunkel. Die eine Seite des Bootes bekam jetzt härtere Wellen ab. Alice konnte erkennen, dass sich ganz hinten am Himmel ein Sturm zusammenbraute, aber sie beobachtete das Geschehen eher mit Interesse als mit Angst. Bald sah sie einen Vorhang aus Regen, der langsam auf sie zukam.
Einige Blitze zerschnitten den Himmel, und an dem darauf folgenden Donner konnte sie abschätzen, wie weit der Sturm noch entfernt war. Sie ließ die Riemen ins Wasser und erschrak, als sie ihr Gewicht spürte. Als sie einen Riemen bewegte, um das Boot zu drehen, jaulte sie leise auf von dem Schmerz, der ihr durch die Schulter schoss und den Rücken hinabkroch. Sie setzte ihre ganze Kraft ein und bekam die Riemen doch kaum ins Wasser. Wenn sie keine größere Zugkraft aufbringen konnte, kam sie nie zurück ans Ufer. Sie holte die Riemen wieder ins Boot und nahm die Decke vom Boden, schlang sie sich um die Schultern und knotete sie behelfsmäßig fest – mehr schafften ihre eiskalten Finger nicht. Mit den Augen suchte sie den Boden des Bootes ab – gab es dort irgendetwas, was sie als Regenschutz oder als Flagge verwenden konnte? Sie fand nur eine Plastikmilchflasche mit abgeschnittenem Oberteil, die wohl als Schöpfeimer
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