Das Gewicht des Himmels
diente. Als sie wieder aufsah, klatschte ihr der Regen direkt ins Gesicht. Sie hielt sich eine Hand über die Augen und starrte über das Wasser in Richtung des Häuschens. Was war das? Ein Bootsmotor? Der Wind übertönte jedes Geräusch. Sie ließ die Riemen erneut ins Wasser und zog keuchend daran, so fest sie nur konnte. Sie bekam jedoch nur fünf schwache Ruderschläge zuwege, ehe ihr Kopf erschöpft auf die Brust sank. Das Ufer war noch immer weit entfernt. Aber da war etwas, das sich auf sie zubewegte, ein Motorboot, das ein tiefes V ins Wasser pflügte. Vielleicht hatte Evan, der Hausmeister der Restons, das Fehlen des Bootes bemerkt, oder vielleicht war es auch George. Aber dann erkannte sie die Gestalt, die das Boot steuerte, und sie wusste, dass er es war.
Es war unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich. Ganz nebenbei hatte sie seine Karriere verfolgt. Sie hatte Kritiken seiner Ausstellungen gelesen, von seinen Auszeichnungen und dem Erfolg der vergangenen Jahre erfahren. Warum sollte er ausgerechnet jetzt hier sein? Auch seine Eltern waren fortgegangen – nicht gestorben, aber weggegangen. Einmal, im sterilen Wartezimmer ihres Rheumatologen, hatte sie einen Artikel im Architectural Digest entdeckt. Dort war ein großes Steinhaus in Frankreich abgebildet, am Ende einer Allee gelegen und umgeben von Olivenbäumen. Sie lebten jetzt meist in Frankreich, weil sie enttäuscht waren vom »traurigen Niedergang der amerikanischen Kultur«. Das Bild erstaunte sie: zwei Menschen mit unbewegten Gesichtern, zwischen ihnen ein Hund, ein sorgfältiges Arrangement. Alle drei herausgeputzt und gelassen. Ganz anders als das Gesicht, an das sie sich erinnerte, wenn sie an ihn dachte. Allerdings hatte sie das schon länger nicht mehr getan. In ihrem Leben hatte es wichtigere Dinge gegeben, und sie hatte ihre Erinnerungen an ihn – genau wie die Enttäuschung und die Scham – irgendwo in einen dunklen Winkel ihres Bewusstseins verbannt.
Sie konnte die Abgase seines Motors riechen, sogar durch den sintflutartigen Regen hindurch. Er stoppte die Maschine und drehte bei, sodass er einen der Riemen ergreifen und sich näher an sie heranziehen konnte.
»Nimm das Seil«, bellte er, aber sie gab keine Antwort. Ihr war, als wären ihre Gelenke zu einer einzigen nutzlosen Masse verschmolzen. Sie konnte sich nicht rühren.
»Nimm es, Alice, verdammt! Was ist denn los mit dir? Du wirst noch ertrinken.« Er packte den Riemen und schob das Boot zurück, bis er ein Nylonseil durch die Bugöse fädeln konnte. Die beiden Enden band er am Mittelsitz des Motorboots fest.
»Gut festhalten!«, rief er über die Schulter.
Sie legte die Hände auf den Rand des Ruderboots; ihre Finger waren zu kalt und taub, um sich an irgendetwas festklammern zu können. Das Boot machte einen Satz, als er losfuhr, und hüpfte munter im Kielwasser des Motorboots herum. Thomas hatte eine Hand auf der Ruderpinne und schaute sich alle paar Sekunden nach ihr um, als hätte er Angst, sie könnte sich zu einer spontanen Schwimmpartie entschließen. Das war kaum denkbar, höchstens, wenn er noch schneller fuhr und sie aus dem Boot fiel. Im Moment machte sie sich mehr Sorgen darum, wie sie aus dem Boot kommen und die Stufen hinaufgelangen sollte, ohne dass er jeden ihrer Schritte beobachtete. Ihre körperliche Schwäche war das, wofür sie sich am meisten schämte und was sie zu verstecken suchte, so gut es nur ging.
Der heftige Regen brannte auf ihren Wangen. Warum war sie hierher zurückgekommen? Sie sah den vagen Um riss des Bayberschen Hauses zwischen den Bäumen. Sie war zurückgekommen, weil an diesem Ort ihre Vergangenheit auf sie wartete, ja allgegenwärtig war: in den Wäldern und auf der Oberfläche des Sees. Ihr jüngeres Selbst versteckte sich noch immer im Wald, bestimmte die Gesänge der Vögel und die Sternbilder am Himmel und wartete darauf, dass die Eltern zum Essen riefen. Hier tranken und lachten sie mehr als zu Hause und ließen die Beine in das kalte, dunkle Wasser an der Anlegestelle baumeln. An diesem Ort hatte sie den Schritt ins Erwachsenenleben vollzogen, hier hatte sie die verwirrenden Gefühle der Anziehung, des Verlangens und der Unsicherheit zum ersten Mal gespürt.
Doch danach war noch mehr gekommen: die Einsicht, dass sie sich leichtfertig und naiv verhalten hatte – und außerdem die Erkenntnis, wie es wirklich um den Charakter von Thomas und auch um den von Natalie bestellt war. Hier hatte alles angefangen, und hier hatte
Weitere Kostenlose Bücher