Das Gewicht des Himmels
schmiedeeisernes Doppelbett enthielt. Nachts rollte Alice sich auf die Seite und rutschte so nah an die Wand, wie sie nur konnte. Dann legte sie die Hand an die Tapete und spürte, wie das Haus atmete, lauschte seiner krächzenden Stimme.
Nach einigen Wochen bemerkte sie ein Muster im Flur teppich: die Spuren, die ihre Füße hinterließen, wenn sie sich vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und wieder zurück schleppte. Saisee, die Haushälterin, die Natalie bald nach dem Einzug gefunden hatte, stellte einen Polsterhocker vor den Sessel im Wohnzimmer und legte ein Plaid darauf. Alice verbrachte ihre Tage in die Decke eingewickelt und starrte aus dem Fenster, dessen aufgequollener Rahmen die Scheiben nur noch mühsam halten konnte. Das alte Glas verzerrte ihren Blick auf die Trompetenblumen und das Geißblatt und verlieh dem Garten etwas Unscharfes und Tropisches. Die wenigen Vögel, die sie erkennen konnte, hauptsächlich Drosseln und Gelbkehlchen und Grundammern, bewegten sich träge, wie narkotisiert von der Hitze.
Alice verlor ihren Appetit, ihr Zeitgefühl und die Fähigkeit zu schlafen. Saisee versuchte es mit Krankenkost: mit köstlichem Reispudding, Milchtoast, pochierten Eiern, Maismehlbrei. Aber die Speisen rochen nach nichts und schmeckten nach Blei. Die Stunden türmten sich vor ihr auf, die Tage vergingen immer gleich, einer nach dem anderen. Die Hitze schwoll an und ließ wieder nach und kehrte im August und September noch einmal zurück. Das Licht der Sonne beherrschte den Himmel und weigerte sich standhaft, schwächer zu werden. In den Zimmern des Hauses war es unerträglich hell; die weiße Farbe an den Wänden glitzerte wie Eis und schmerzte in den Augen. Selbst wenn Alice sie fest zukniff, drang noch Licht zwischen den Lidern hindurch.
Nachts kommunizierten die Insekten miteinander. Alice lag wach und lauschte dem Zirpen und dem Summen, das sie partout nicht ausblenden konnte. Nach vielen Stunden war das Bett dann kein Bett mehr, sondern ein tiefer Brunnen, dessen Wände moosbewachsen und glitschig waren – unmöglich, da hochzuklettern! Aus dem Halbschlaf fuhr sie immer wieder hoch, zitternd und schweißgebadet, fest ins Leintuch gewickelt. Die Träume hinterließen das Echo des Wassers, das sie den ganzen Tag über begleitete; das leise, aber deutliche Rauschen, das die drückende Hitze verjagte, das ihre feurigen Gelenke beruhigte, das nach ihr rief, während es über ihre Knöchel und Knie nach oben stieg, den Schweiß zwischen ihren Brüsten wegwusch, ihre Schultern umspülte, ihre Lippen kühlte und ihr die Ohren füllte. In einer Strömung gefangen, ließ sie sich zwischen den Zimmern treiben. Die Kaboutermannekes, die ihr den Weg hätten zeigen können, erschienen nicht.
War es Tag oder Nacht? Freitag oder Dienstag? Hatte sie ihre Schmerztabletten eingenommen? Am besten nahm sie noch ein paar, um ganz sicherzugehen. Natalie packte sie an den Schultern, und der Schmerz führte sie wieder zurück in die Welt.
»Um Himmels willen, Alice. Zieh dich an. Geh ein bisschen im Garten spazieren. Mach was Vernünftiges.«
Alice stand auf. Sie wollte Natalie auch schütteln, so fest, dass ihr die Zähne ausfielen. »Du bist ein Monster.«
Natalies Miene war unbewegt. Sie ordnete die Kissen des Sofas, obwohl nie jemand dort saß, und wandte sich ab von Alice. »Wenn du nicht mehr Elan aufbringen kannst, ist es sowieso egal. Du wärst keine gute Mutter geworden.«
Diese Bösartigkeit wirbelte etwas Bitteres in Alice auf und setzte sich in ihrer Kehle fest. »Und du wärst nicht selbstlos genug gewesen.«
Das war das Schlimmste, was sie sagen konnte. Das Gesicht ihrer Schwester wurde von einer jähen Wut überschattet, die genauso schnell, wie sie gekommen war, wieder verschwand. Natalie bedachte sie mit einem angespannten, eisigen Lächeln. Alice zitterte unwillkürlich.
»Hasst du mich, Alice?«, fragte Natalie beinahe erwartungsvoll. »Das kann ich dir wohl nicht verdenken. Aber ich bin trotzdem überrascht. Ich dachte, du wärst zu solchen Gefühlsregungen gar nicht fähig.«
Alice sank tiefer in den Sessel, bis ihr Rückgrat die vertraute Position gefunden hatte. Konnte sie denn ihre eigene Schwester hassen? Würde sie das nicht zu genau dem Monster machen, als das sie Natalie gerade bezeichnet hatte? Sie dachte an Thomas’ Versuch, sie zu warnen, und daran, wie sie ihn unterbrochen hatte, weil sie nichts Negatives über ihre Familie hören wollte. Wenn sie sich deren Fehler selbst bewusst
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