Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
Vom Netzwerk:
Abendessen. Phinneaus drückte es ein bisschen anders aus, als sie sich zum ersten Mal begegneten; er kam von der anderen Straßenseite und klopfte bei ihnen an die Tür, in der Hand einen Teller mit etwas Unförmigem, das dick mit Zuckerguss überzogen war. Dieser Ort, der ist wie ein ruhiger, gemächlicher Fluss, der sich tief in sein Bett eingegraben hat. Da braucht’s schon was von biblischen Ausmaßen, damit er seinen Lauf ändert.
    »Das ist Mr. Lapine«, sagte Saisee und zog den Namen so sehr in die Länge (»Lapii-in«), dass er sich mehr nach einer Krankheit als einem Nachnamen anhörte. Sie spähte durch die gestärkten Spitzengardinen, die Natalie ausgesucht hatte, ging dann zu Alice in ihrem Sessel, beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr den Namen zu. Dabei stand sie so dicht bei Alice, dass diese die Wäschestärke von Saisees Schürze riechen konnte: dieselbe Marke wie bei den Vorhängen. »Er ist Ihr Nachbar von der anderen Straßenseite. Lebt ganz allein in dem großen Haus. Er ist ganz nett, aber niemand weiß so genau, aus welchen Verhältnissen er stammt, und er erzählt nich’ viel über sich selbst.«
    »Sieht aus, als wäre ich das offizielle Willkommenskomitee«, sagte er und nahm seinen Boonie-Hut in Tarnfarbenmuster ab. Darunter kam struppiges blondes Haar zum Vorschein, das an manchen Stellen dunkel vom Schweiß war. Sein Hemd klebte ihm an der Haut, die Knopfleiste war feucht. »Meine Damen, Sie sind aus dem Norden, wie ich gehört habe. Wie finden Sie Orion bis jetzt denn so? Hoffentlich kommen Sie mit den Temperaturen zurecht.«
    »Klein, Mr. Lapine. Meine Schwester und ich finden Orion klein. Aber fein, natürlich«, entgegnete Natalie.
    »Bitte nennen Sie mich Phinneaus.«
    Natalie bedachte ihn mit einem gleichgültigen Lächeln. Anscheinend betrachtete sie ihn als einen Sonderling, der besser zu ihrer Schwester passte als zu ihr. Mit einem Nicken entschuldigte sie sich und schützte einen Termin vor.
    »Nun, Phinneaus. Leider bin ich gerade auf dem Sprung. Aber Alice wird entzückt sein, ein wenig mit Ihnen zu plaudern. Sie steht gern im Mittelpunkt. Unsere Eltern haben sie immer bevorzugt, darum ist sie ziemlich verwöhnt. Und jetzt tut sie sich schwer damit, sich an diese …« – sie wirbelte mit der Hand durch die Luft, als wickelte sie Zuckerwatte auf einen Stab – »diese Stille zu gewöhnen.«
    Alice keuchte vor Entrüstung, aber Phinneaus warf Natalie nur einen scharfen Blick zu, bevor er sich achselzuckend Alice zuwandte. Er betrachtete nur ihr Gesicht und schenkte den unter der staubfarbenen Decke verborgenen Teilen ihres Körpers keine Aufmerksamkeit. Ja, Saisee hatte die kranken Glieder zuvor sorgfältig versteckt. Zur Begrüßung streckte der Gast Alice nicht die Hand hin, was ihr verdächtig vorkam. War er etwa vorgewarnt worden? Wahrscheinlich wusste schon der ganze Ort von ihrer misslichen Lage, nach nur wenigen Wochen. Hatte Natalie sie als Werk zeug benutzt, um die harte Schale der Nachbarn und anderer nützlicher Menschen zu knacken? Eine reizende junge Fremde, die nicht so reserviert war, wie sich das eigentlich gehörte. Eine aus dem Norden, mit einer Spur von Überheblichkeit, für die es eigentlich keinen echten Grund gab außer ihrem umwerfenden Aussehen. Aber da war noch die Schwester – ein Hauch von Skandal, eine furchtbare Krankheit. Ach, Natalie musste so vieles erdulden, trug in ihren jungen Jahren so viel Verantwortung, und ihre Schönheit wurde bestimmt vergeudet – da musste man doch Zugeständnisse machen! Alice begriff, dass sie Natalie auf diese Art nützlich war, ihr eine Demut verlieh, die sie im Grunde nicht besaß.
    »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum sie so redet.«
    »Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Phinneaus. »Aber ich bin ja Einzelkind. Wir Einzelkinder verstehen nichts von Geschwisterrivalität.«
    Alice war so peinlich berührt, dass sie nicht einmal ein Lächeln zustande brachte. Die Unterhaltung schien an diesem Punkt zu enden; Natalie hatte das Scheitern schon vorprogrammiert.
    »Ein interessanter Name«, sagte er und trat näher. Seine Hosen waren am Knie voller roter Flecken; das war die lehmige Erde, die laut Natalie in allen Gärten des Ortes zu finden war. Auch sein Gesicht war mit einer dünnen Schicht dieses roten Staubs bedeckt, bis auf zwei eulenhafte Kreise um die Augen herum. Eine Brille? Sie konnte ihn sich gut mit einer Brille vorstellen. Damit sah er sicher ziemlich gesetzt aus.
    »Alice? Was ist

Weitere Kostenlose Bücher