Das Gewicht des Himmels
es noch immer unverantwortlich, dass wir die Zeichnung dort gelassen haben.«
»Ach, und wenn wir sie geklaut hätten, wäre das besonders verantwortungsvoll gewesen? Stephen, vertrauen Sie einfach darauf, dass sie in guten Händen ist. Und setzen Sie sie auf die Liste unserer Gründe«, sagte Finch.
»Die Liste unserer Gründe?«
»Unserer Gründe dafür, Natalie und Alice zu finden, und zwar so bald wie möglich.«
8
August 1972
W ie Natalie das Haus entdeckt hatte, war ein Rätsel. Vielleicht hatte sie ja einfach die Augen geschlossen und mit dem Zeigefinger auf die Landkarte getippt – und Orion getroffen, einen kleinen Ort in der Golfküstenebene im Westen von Tennessee. Als sie ankamen, war es schon nach Mitternacht, aber noch lange vor Tagesanbruch, wenn die Landschaft das blasse Grau des Morgens annahm. Das Dunkel war üppig und schwer. Das Haus stand mitten in einem Block alter viktorianischer Häuser mit verfallenen Veranden, bröckelnden Säulen und zierlichen Buchsbaumhecken, und der Weg, der zu den breiten Terrassenstufen führte, war voller Risse und hochstehender Steinkanten, die sich übereinanderschoben wie die Kontinentalplatten. Vor sichtig stiegen sie darüber. Die Stufen knarzten unter ihrem Gewicht und dem der schweren Koffer. Als Natalie in ihren Taschen nach dem Schlüssel suchte, fühlte Alice sich wie eine Einbrecherin; sie war in ihrem alten Leben eingeschlafen und erwachte jetzt in einem neuen.
Wir können es uns leisten, lautete Natalies knappe Erklärung, und außerdem ist das Wetter für dich dort besser . Sie war nicht auf Alices flehentliche Bitten eingegangen, sie nicht aus ihrem Elternhaus fortzureißen, aus dem Haus, in dem ihre Eltern nachts noch immer umgingen und ihren kalten Atem verströmten. Aus dem Haus, wo ihre Tochter, wie Alice sehnlichst hoffte, für einen kurzen Moment die Augen geöffnet und alles gesehen hatte, bevor sie sie wieder schloss. Natalie hatte Alices Finger einzeln vom Türrahmen gelöst. Wir können hier nicht bleiben. Sie hatte die Autotüren verriegelt und war dermaßen rasant angefahren, dass der Schotter auf der Auffahrt nur so spritzte. Zwanzig Stunden lang war Natalie nach Süden gerast, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Mit entschlossener Miene, weit geöffneten Fenstern und Kaffee zum Wachbleiben saß sie hinter dem Steuer, während Alice die ganze Zeit über wie ein Zombie in ihrem Sitz hing, immer wieder wegdriftete und sich vorstellte, sie hätten einen Unfall – so könnte sie wenigstens bei ihrer Tochter sein.
Als es hell wurde, sah das Haus kein bisschen besser aus. Schlingpflanzen rankten sich um das verfallene Gitter unter der Veranda, das das Haus fest mit seinem feuchten Bett aus Matsch verband. Die Fensterläden hingen schief in den Scharnieren, und die Farbschicht schälte sich von der Hauswand ab wie Luftschlangen aus Papier. Sie hatten das Haus komplett möbliert gekauft, aber die Einrichtung war bunt zusammengewürfelt und verlottert: Von den Stuhlbeinen blätterte der Lack ab, die Sofakissen hatten permanente Dellen und undefinierbare Flecken. Über allem lag eine drückende Schwüle, die Alice das Atmen erschwerte. Das sind deine Tabletten , sagte Natalie. Die machen dich groggy. Aber Alice wusste es besser. Es waren nicht die Goldsalze oder das Penicillamin, das fast unmittelbar nach ihrer Schwangerschaft wieder notwendig geworden war. Das Baby hatte eine Art Schutzzauber über ihren Körper gelegt und die üblichen Symptome auf diese Weise abgewehrt. Danach jedoch lief die Arthritis zur Höchstform auf und bescherte Alice bisher ungekannte Schmerzen und schwere Erschöpfungszustände. Wenn sie es mit neuen Medikamenten versuchte, fand die Krankheit nach kurzer Besserung immer einen Weg, um an anderer Stelle wieder neu aufzutauchen. Diese Art von Schmerz war anders und auch nicht zu vergleichen mit den Qualen der Trauer, die Alice nach dem Tod ihrer Eltern noch immer heimsuchten. Dieser Schmerz war heftig und stechend und setzte sich in jeder Zelle ihres Körpers fest.
Sie hatte weder die Kraft noch die Energie, um die lange Treppe in den ersten Stock zu erklimmen, darum wurde das Erdgeschoss zu ihrem Refugium. Sie belegte nur zwei Zimmer: das Wohnzimmer mit hoher Decke und umlaufenden Fenstern und das kleine Schlafzimmer auf der gegenüberliegenden Seite, das früher einmal das Herrenzimmer ge wesen sein musste, jetzt aber so spartanisch wie eine Mönchszelle wirkte, weil es als einziges Möbelstück nur ein
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