Das Gewicht des Himmels
sich und begann von Neuem. Sie stotterte: »Alice, ich muss …«
»Sag nichts. Bitte bleib bei mir.«
»Schhh. Ich weiß.«
»Nein, du weißt nichts. Du kannst mich nicht verstehen. Bitte bleib hier.« In dieser Stellung war sie wieder eingeschlafen, halb sitzend, die Arme um Natalie geschlungen.
Am nächsten Morgen, als Alice in die Küche gestolpert kam, lehnte Natalie mit einem Glas Saft in der Hand am Kühlschrank.
»Natalie, danke für …«
Natalie unterbrach sie und nahm ihre Hand. »Ich weiß doch nichts, nicht wahr?«
Die Schwester, nach der Alice sich sehnte, war über Nacht verschwunden. Natalie hatte sie vorsichtig zusammengefaltet und irgendwo in der hintersten Ecke verstaut. Aber solche seltenen Momente gaben Alice ein wenig Hoff nung. Sie verrieten ihr, dass ihre Schwester noch existierte, vergraben unter etwas, was sie mit ihren schwachen Armen nicht zur Seite schieben konnte.
Thanksgiving kam und ging, und dann folgte schon bald der Abend der Abrechnung. Phinneaus kam vorbei, bewaffnet mit seinen Werkzeugen: gespitzten Bleistiften, Schreibblöcken, dem Taschenrechner, den sie ihm vor langer Zeit geschenkt hatte und den er immer bei sich trug, aber nie benutzte. Nach dem Essen blieben Saisee und Frankie in der Küche, um aufzuräumen und neu gelernte Wörter zu üben. Alice und Phinneaus zogen sich ins Esszimmer zurück, wo Alice um den Tisch herumhumpelte und die Gardinen aufzog, um einen Blick ins Dunkel vor dem Fenster zu werfen.
»Ich vermisse den Winter.«
»Wir haben Winter, Alice. Das weißt du. In den meisten Jahren schneit es hier sogar. Du willst das Ganze nur hinauszögern.«
Jemanden um sich zu haben, der sie so gut kannte, war ein Geschenk. »Ich weiß. Aber es ist einfach so. Manchmal vermisse ich den Winter im Nordosten. Noch immer, nach so langer Zeit.« Das Versprechen der Stille, die Decke der Einsamkeit, die sich über allem und jedem zugleich ausbreitete, der Himmel, der sein Federkleid ausschüttelte; das alles kam jedes Jahr doch wieder überraschend. Für ein oder zwei Monate wurde auch der Rest der Welt langsamer und passte sich ihrem eigenen zögerlichen Tempo an; die Menschen gaben besonders gut acht, bewegten sich vor sichtiger, kämpften gegen den eisigen Wind an, der ihnen entgegenschlug. In diesen Zeiten fühlte sie sich beinahe normal.
»Hast du was auf dem Herzen?«
Für gewöhnlich konnte sie nichts vor ihm verstecken, aber diesen Kummer schien sie besonders offensichtlich vor sich herzutragen. Nicht nur für ihn, sondern für die ganze Welt.
»Du liebst deine Schwester, nicht wahr, Phinneaus?«
Er zwirbelte den Bleistift zwischen den Fingern und kritzelte dann ein Tic-Tac-Toe-Gitter auf ein leeres Blatt Papier. »Ich glaube, was du meinst, ist: Liebe ich meine Schwester immer noch, obwohl sie meine Familie bestohlen und unsere Herzen gebrochen und ihr Kind ohne großes Nachdenken ihrem armen Bruder überlassen hat? Obwohl sie rücksichtslos und unverantwortlich und kriminell und drogenabhängig ist? Obwohl ich nicht glaube, dass sie sich je ändern wird? Ich glaube, das wolltest du mich eigentlich fragen.«
»Und, liebst du sie trotzdem?«
»Ach, niemand ist perfekt.« Phinneaus grinste sie an, setzte ein X in das mittlere Kästchen und schob ihr das Blatt zu. Sie reagierte nicht, darum versuchte er es noch einmal.
»Ja, Alice, ich liebe sie noch immer. Ich weiß, dass ich es dir dadurch nicht einfacher mache.«
»Aber wie kannst du nur?«
Er war ein Mann, der über seine Ansichten und Handlungen grundsätzlich nicht sprach. Meistens behalf Alice sich damit, diese Lücken mit ihrer eigenen Interpretation zu füllen. Aber nicht jetzt. Sie hatte auf eine andere Ant wort gehofft, auf eine, mit der sie ihre eigenen Gefühle rechtfertigen konnte. »Wie kannst du nur?«, fragte sie noch einmal.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Bleistift über den Tisch rollen. »Ich habe viel Zeit damit verbracht, andere Menschen zu hassen, Alice. Im Krieg und auch danach. Der Hass war nützlich für mich – ich konnte dadurch Dinge tun, die ich mir nie zugetraut hätte. Ich habe die Regierung und die Politiker gehasst. Ich habe das Essen und das Wetter und den Lärm gehasst. Ich habe die Männer gehasst, gegen die ich kämpfte, und meistens habe ich auch die Männer gehasst, an deren Seite ich kämpfte. Jedes Mal, wenn ich das Wort ›Hass‹ aussprach, jedes Mal, wenn ich es dachte, hat es mich ein wenig stärker betäubt.«
Sie überlegte. Er
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