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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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geisterte noch immer die ältere Schwester und weigerte sich, ihr Herz freizugeben.
    Phinneaus beugte sich über seinen Schreibblock und bewegte Alices Verpflichtungen von einer Spalte zur anderen, während Alice die Kartons aus Natalies Zim mer durchwühlte. Als sie ein Blatt Papier herauszog, sprang ihr die breite, vertraute Handschrift ihrer Schwester ins Auge. Offenbar hielt Alice ein juristisches Dokument einer Immobilienverwaltung namens Steele & Greene in den Händen.
    »Was ist denn das hier?«
    Während er das Blatt studierte, bewegte er lautlos die Lippen. Dann blickte er finster drein und las sich das Dokument noch einmal durch.
    »Alice, hast du nicht gesagt, dass ihr das Haus in Connecticut verkauft habt?«
    Mit einem Schlag wurde sie fünfunddreißig Jahre in die Vergangenheit katapultiert. Sie hörte die Hagelkörner, die gegen das Dach schlugen, und roch den schwefligen Geruch der Blitze. Der Wind brüllte wie ein wildes Tier, das verzweifelt kreischte und jaulte, um ins Haus gelassen zu werden. Im Rücken spürte sie so starke Schmerzen, dass sie beinahe zusammengebrochen wäre.
    »Wir haben es auch verkauft. Direkt nach dem Hurrikan. Natalie sagte, das Fundament habe schwere Schäden abbekommen, und die Reparatur könnten wir uns nicht leisten. Wir haben es im zerstörten Zustand angeboten. Aber zum Glück fand der Makler schnell einen Käufer. Ein junges Paar.« Mit Baby, dachte sie, sprach die Worte aber nicht laut aus.
    »Das sieht mir aus wie eine Vereinbarung zwischen den Kesslers und der Immobilienverwaltung Steele & Greene. Sie tritt stellvertretend für die Kesslers als Vermieter des Anwesens Stonehope Way 700 in Woodridge, Connecticut, auf.«
    »Unmöglich. Das ist nämlich unsere alte Adresse. Das ist das Haus, das wir verkauft haben. Vielleicht hat der Makler ja für Steele & Greene gearbeitet?«
    »Erinnerst du dich daran, dass du irgendetwas unterschrieben hast?«
    »Nein, natürlich nicht. Ich hätte unser Haus nie verkauft. Ich wollte es ja gar nicht verlassen.«
    Phinneaus wühlte sich durch den Karton und förderte weitere Dokumente zutage. »Hier ist ein unterschriebener Mietvertrag. Alice, euer altes Haus ist nicht verkauft worden. Es wurde vermietet. Natalie muss regelmäßig Schecks von der Verwaltungsfirma bekommen haben.«
    »Aber sie sagte, wir wären gezwungen gewesen, wegzugehen. Und Geld habe ich niemals gesehen.«
    Erinnerungen, die sie immer unterdrückt hatte, kamen ohne Vorwarnung an die Oberfläche und wirbelten durch ihr Inneres. Die blaugrüne Tapete im Foyer, die sich anfühlte wie Seide, wenn sie mit den Fingerspitzen darüberstrich, wobei sie sich vorstellte, sie berühre einen See; der Klang der Türglocke, bei deren Dreiklang immer ein Ton fehlte; das Knarren in der dritten Stufe der Treppe zum ersten Stock; das Klavier, das ihre Großmutter ihrer Mutter unter der Bedingung hinterlassen hatte, dass sie einmal täglich darauf spielte; die Gluthitze auf dem engen Dachboden, wo es immer nach Mottenkugeln und vergilbten Zeitungen roch; der schrille Schrei eines kleinen Vogels, der direkt neben ihr die Dunkelheit zerriss und dann verklang.
    »Alice, ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich muss erst die anderen Dokumente durchlesen.«
    Die Zeit unmittelbar nach dem Sturm war dunkel und verstörend gewesen. Alice hatte sich ihrer Schwäche und Schmerzempfindlichkeit so sehr geschämt, dass sie sich ganz ihren Medikamenten hingegeben und sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als im ewigen Dämmerschlaf zu liegen.
    »Das verstehe ich nicht. Sie wollte, dass wir das Haus aufgeben. Aber warum?«
    »Ich muss erst mal den restlichen Papierkram durcharbeiten. Kannst du uns vielleicht einen Tee machen?«
    Sie ging in die Küche, um den Wasserkessel zu füllen. Auf dem Weg dorthin stiegen alle möglichen Erinnerungen in ihr auf, gegen die sie sich wehrte. Wo war sie eigentlich? In welchem Flur? In welcher Küche? Als sie mit dem Tee zurückkam, hatte Phinneaus den Karton ausgeleert. Den übrigen Papierkram hatte er auf dem Boden gestapelt, und der Tisch war jetzt bedeckt mit den Dokumenten aus Natalies Schachtel. Da waren Scheckbuchauszüge, Einzahlungsbelege, Kontoblätter, ausgeschnittene Zeitungsartikel, ein Bündel Briefe und Postkarten sowie ein Buch.
    »Vielleicht sollten wir das alles für heute Abend vergessen und uns erst morgen früh damit beschäftigen. Was meinst du?« In seiner Stimme lag Besorgnis; so viel, dass Alice sie bemerkte, aber nicht genug, um

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