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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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brachte sie die Deckel ohnehin nicht mehr auf. Die Farben in den Fläschchen waren ihr so fremd wie die exotischen Zahlungsmittel auf einer tropischen Insel: sonnige Koralle, klebrige Pfefferminze, Radiergummipink, Taft-Elfenbein, schreiendes Fuchsia. Das waren vielleicht Farbtöne für Vögel, für solche, die sie noch nie gesehen hatte und sich höchstens ausdenken konnte. Die Vorstellung, besondere Aufmerksamkeit auf ihre Hände zu lenken, war absurd. Der Gedanke daran weckte ein dunkles Lachen tief in ihr, das sich sofort in einen melancholischen Schrei verwandelte.
    Suchen Sie etwas Hübsches aus. Etwas Hübsches. Die Worte klebten ihr im Hals fest, die Silben waren im falschen Mund gefangen. »Hübsch« hatte sie schon vor langer Zeit aus ihrem Vokabular gestrichen. Die Begriffe, die zu ihr selbst passten, klangen stumpfer: gescheit, dickköpfig, kühl, entschlossen.
    Bisher hatte sie Natalie gehabt, gegen die sie kämpfen musste, die ihr alles abverlangte. Alice hatte nicht mehr viel vom Leben, aber selbst über dieses Wenige hatten sie sich gestritten. Aus der Entschlossenheit, mit der Alice sich gegen ihre Schwester behaupten musste, bezog sie die Motivation, um jeden neuen Tag in Angriff zu nehmen. Aber jetzt, da Natalie nicht mehr lebte, hatte etwas anderes ihre Stelle eingenommen: das Gefühl der Niederlage, das die ganze Zeit über nur geschlummert hatte und jetzt an die Oberfläche kroch.
    »Phinneaus sagt, wir sollen heute Abend bei Ihnen essen«, krächzte Frankie und holte sie wieder in die Gegenwart zurück.
    »Ich wusste gar nicht, dass man sich selbst zum Essen einladen darf.«
    »Phinneaus meint, Sie könnten Gesellschaft gebrauchen. Sie sollten jetzt nicht alleine sein, Miss Alice.« Er riss die Augen auf. »Haben Sie Angst?«
    »Angst? Wovor denn?«
    Frankie begann zu flüstern. Obwohl sie schon wusste, dass es den Schmerz nicht wert war, beugte sie sich zu ihm vor, um seine Worte zu verstehen.
    »Spuk.«
    »Spuk? Meinst du Gespenster? Frankie, wovon redest du da bloß?«
    Seine Augen waren auf ihre Füße geheftet. »Miss Natalie.«
    Hätte Natalie wohl ihren Spaß daran, sie jetzt heimzusuchen? Der einzige Grund für eine Wiederkehr von Natalie wäre etwas Ungesagtes zwischen ihnen. Spuken. Spotten. Die Begriffe tanzten wild durch ihr Hirn. Nein, beschloss sie. Sie hatte schon genügend Gespenster im Haus. Da war kein Platz für ein weiteres.
    »Sag Phinneaus, das geht in Ordnung, wenn Saisee nichts dagegen hat. Dann würde ich mich freuen, mit euch beiden zu Abend zu essen.«
    »Saisee muss nicht kochen. Wir bringen das Essen mit.«
    »Wenn dein Onkel nicht plötzlich zum Meisterkoch geworden ist, klingt das nicht besonders gut. Aber es geht ja um die Gesellschaft, und darum kann ich das Angebot kaum ausschlagen, nicht wahr, Saisee?«
    Die Haushälterin schnaubte und glättete sich den Rock. »Also, ich weiß nich’, das gefällt mir nich’, dass da jemand in meiner Küche kocht. Meinen Händen fehlt nix.«
    »Sie sind auch eingeladen, Saisee«, piepste Frankie. »Das hatte ich vergessen.«
    »Nur weil Miss Natalie nich’ mehr da ist, kann ich nich’ die Hände in den Schoß legen. Ich hab zu arbeiten.«
    Aber wie lange noch?, fragte sich Alice. Gestern war sie nicht in der Lage gewesen, sich über Geld Gedanken zu machen. Und heute war es genauso ungünstig. Aber bald. Bald würde sie Phinneaus bitten müssen, sich zu ihr zu setzen und mit gespitztem Bleistift ihre Finanzen durchzugehen. Sie würde zusehen, wie er mit größter Sorgfalt bestimmte Zahlen auf Kontopapier schrieb – die dann durch irgendeinen teuflischen Zauber vielfach vergrößert in einer anderen Spalte erschienen. Die Summe, die am Ende herauskam, war wie eine Kristallkugel, die ihr die Zukunft anzeigte: Sie sagte ihr, wo sie hingehen musste, was sie zurücklassen musste, wann sie sich einschränken musste. Ihre Finanzen schwanden dahin wie ihr eigener fragiler Körper, bald würde nichts mehr übrig sein, wenn sie weiterhin so viele Ausgaben bestreiten musste: Da waren die Tabletten, die Arztbesuche, der Lohn für Saisee, die Grundsteuer, die Rechnungen für Wasser und Strom und Lebensmittel. Der Tod schaute ihr schon über die Schulter, atmete Natalies Geist und machte sie leichtsinnig. Ich könnte alles hinter mir lassen, dachte sie. Ich könnte damit aufhören, mich auf meine Gesundheit zu fixieren. Ich könnte damit aufhören, meine Krankheit überlisten zu wollen. Damit aufhören, müde zu sein. Ich könnte

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