Das Gewicht des Himmels
eingeschlafen, den schlaksigen Körper lang ausgestreckt. Sein T-Shirt hatte sich ihm um die Brust gewickelt und ließ den Bauch frei, und sein schlaffes Gesicht zeigte einen Zustand höchster Entspannung. Phinneaus legte eine Reihe von Dokumenten auf den Tisch, fein säuberlich nach Stapeln geordnet. Er und Alice waren sich darin einig, dass es nichts bringen würde, die ernsthafte Beschäftigung mit ihren Verpflichtungen, wie er es nannte, noch weiter hinauszuzögern.
»Das klingt besser als Schulden .«
»Das soll es ja auch.«
Sie blätterte die verschiedenen Stapel durch. Der Papierhaufen, der wegen seiner Höhe schon fast zusammenbrach, bestand aus Schreiben der Krankenkasse, welche Leistungen übernommen und welche abgelehnt wurden. Die anderen Stapel setzten sich aus Rechnungen von Ärzten und Versicherungen zusammen.
»Was ist da drin?«, fragte sie und warf einen Blick in eine große Pappschachtel, die von einer dicken Staubschicht überzogen war.
»Keine Ahnung. Saisee hat sie im Zimmer deiner Schwes ter gefunden. Im Kleiderschrank.« Er machte eine Pause, und sie merkte, dass er nach den richtigen Worten suchte. »Du findest es vielleicht zu früh, nach nur ein paar Wochen, aber du musst das Zimmer ausräumen. Du brauchst es möglicherweise bald.«
Sie lächelte ihn an. »Wofür sollte ich das Zimmer denn brauchen? Meinst du, die Aussicht vom ersten Stock ist schöner?«
Phinneaus räusperte sich. »Du musst es vielleicht vermieten.«
Er blickte auf, um zu schauen, ob sie sich aufregte. Der Gedanke, einen Fremden im Haus aufzunehmen, machte sie unruhig, aber sie wusste, dass ihre Optionen beschränkt waren, und darum bemühte sie sich um einen fröhlichen Tonfall.
»Ach so, jetzt hast du dich mit Saisee zusammen gegen mich verschworen?«
»Ich könnte dich nach oben tragen, wenn du es selbst machen willst, aber Saisee dachte, es wäre leichter, wenn sie die Sachen nach unten bringen würde. Ganz gemächlich, eins nach dem anderen. Sie hat schon damit angefangen, Natalies Zimmer sauber zu machen. Dann kannst du schauen, was du behalten möchtest, und aussortieren, was du verkaufen willst.«
»Du meinst, was ich verbrennen will?«
»Du nimmst das ja leichter, als ich dachte.«
»Ich habe doch auch keine andere Wahl, als pragmatisch an die Sache heranzugehen, oder?«
Wenn sie es sich hätte aussuchen dürfen, hätte sie sich dann ein Leben ohne Natalie gewünscht? Wenn sie Phinneaus jetzt erzählte, sie seien sich niemals nahe gewesen, hätte sie ihre gesamte Kindheit verleugnet. Abwechselnd hatten sie die Rückseiten der Briefmarken abgeleckt und sie ins Album geklebt; Natalie hatte einmal sogar Alices und ihre eigenen Haare zu einem gemeinsamen Zopf geflochten und erklärt: Jetzt gehen wir überall zusammen hin . Sie hatte die Kinder, die Alice ärgerten, wutentbrannt zur Seite geschubst; sie hatte die Schuld auf sich genommen, wenn Alice etwas angestellt hatte: beim geklauten Kaugummi, bei der zerbrochenen Vase, bei der Keilerei auf dem Schulhof. Und wenn der Vater sie dafür bestrafte, brachte sie ihn mit ihrer sturen Gleichgültigkeit zum Wahnsinn. Warum hatte sie sich dann verändert? Was war passiert?
Irgendwann im Laufe ihres Erwachsenwerdens hatte sich zwischen ihnen eine magnetische Kraft entwickelt, die nur ganz knapp unter der Oberfläche schlummerte. Die polaren Emotionen Zorn und Liebe, Loyalität und Eifersucht flogen zwischen ihnen hin und her. Natalie wusste am allerbesten, wie sie Alice wehtun konnte. Alice hatte immer angenommen, ihre Arthritis wäre schuld daran, denn die Krankheit forderte Aufmerksamkeit und Geld. Aufmerksamkeit von den Eltern, als diese noch lebten, und Geld von Natalie, das sie nach dem Tod der Eltern an Alice fesselte. Natalies Art, Menschen an sich zu binden und sie dann mit kalkulierter Grausamkeit wieder von sich zu stoßen, sorgte dafür, dass die Bande zwischen den Schwestern schließlich gekappt wurden. Als Erwachsene lebten sie nebeneinander her wie die Überlebenden zweier verschiedener Schiffskatastrophen, die zufällig auf dieselbe einsame Insel gespült worden waren und keine gemeinsame Sprache zur Verständigung fanden. Doch jetzt, da Natalie fort war, spürte Alice nicht nur ihre Abwesenheit, sondern auch eine Art Unvollständigkeit. Es war, als hätte sie plötzlich ein Phantombein, als quälte sie etwas, das gar nicht mehr da war. In gewisser Weise hatte Frankie durchaus recht, wenn er von Gespenstern redete. Durch Alices Erinnerungen
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