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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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hineinschaute, um die Briefe abzuholen, die nicht bis ins Haus zugestellt wurden – denn sie hatte ja, was ihre persönlichen Angelegenheiten betraf, ein Anrecht auf Privatsphäre. (Eine Aussage, die Saisee als persönliche Beleidigung auffasste.) Vorbei am Diner, wo sie den Männern auf den Hockern vorm Fenster zuwinkte, woraufhin die Männer synchron von ihren Tageszeitungen aufsahen und lächelten, bis sie schon längst wieder um die Ecke gebogen war; erst dann wandten sie sich wieder blinzelnd dem Klein gedruckten zu. Vorbei am Friedhof mit seinem Zaun und der buschigen Hecke aus Forsythien und Buchs, vorbei an den postkartengroßen amerikanischen Flaggen, die neben den äußerst schlichten Grabkreuzen im Boden steckten.
    Dieses ganze Herumgerenne. Vor zwei Wochen dann war sie einfach umgefallen, auf dem Weg von einer Seite des Wohnzimmers zur anderen, so als hätte sich die Schwerkraft des Teppichs mit einem Mal schlagartig verstärkt und sie unwiderstehlich angezogen. Die Vase mit den Mentze lien, Glockenblumen und Lobelien, die sie hinten im Garten abgeschnitten hatte, glitt ihr aus den Fingern und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Perserteppich, und das Wasser darin bildete einen großen Fleck, dessen Umrisse noch immer zu erahnen waren – das behauptete jedenfalls Alice. Sie selbst hatte festgestellt, dass ihre Beine schneller reagierten, als sie es für möglich gehalten hatte. Sie hatte neben Natalie auf dem Boden gesessen, in ihr ungläubiges Gesicht geschaut und ihr die Hand gehalten. Als Natalies Finger sich um ihr Handgelenk klammerten wie die Klauen eines Raubvogels, vergaß Alice wenigstens einmal, ihrer Schwester die Kraft zu neiden.
    »Tut mir leid«, hatte Natalie gekeucht.
    »Ist schon in Ordnung.«
    »Nein, ist es nicht.«
    »Waren ihre Finger eingerollt?«
    »Du meinst so wie meine Finger?« Alice streckte eine Hand vor und betrachtete sie schonungslos.
    »Nee. Sie können Ihre Finger doch noch bewegen, oder nicht?«
    »An guten Tagen schon.«
    »Mein Cousin hat mir gesagt, wenn Menschen sterben, die noch nicht gehen wollen, rollen sich ihre Finger ein, so als würden sie sich mit aller Kraft ans Leben klammern. Sie wollen sich da festhalten, wo sie gerade sind.«
    »Dein Cousin hat ja noch mehr Fantasie als du, Frankie. Das ist kaum zu glauben.«
    Alice hatte Natalies Finger von ihrem Handgelenk gelöst, um ihr den Puls zu fühlen, aber keinen gefunden. Dann hatte sie die Hand ihrer Schwester wieder genommen. Noch nicht, hatte Alice geflüstert, geh noch nicht . Aber da waren Natalies Finger, die Alice schon ihr Leben lang kannte – lang und schlank, die Nägel gerade abgeschnitten, nicht zu kurz und nicht zu lang, mit Nagellack, der bereits matt wurde –, mit einem Mal schlaff geworden. Der Bestatter hatte zwei Tage lang auf Alice eingeredet, bis sie endlich eine Nagellackfarbe auswählte: einen schrecklichen hautfarbenen Ton namens Pinkee Doodle Dandy.
    »Miss Natalie hätte gewollt, dass ihre Fingernägel so hübsch wie möglich aussehen«, grummelte er.
    »Dann suchen Sie doch etwas aus, Albert. Ich gebe Ihnen freie Hand.«
    »Das wäre nicht richtig. Sie war ja nicht meine Verwandte. Das ist die Pflicht der Familie.«
    »Albert, ich habe das Kleid und die Schuhe, die Halskette und die Ohrringe ausgesucht, so wie Sie es von mir wollten. Könnten Sie bitte damit aufhören, mich wegen so unwichtiger Dinge zu behelligen?«
    »Für sie wäre es nicht unwichtig gewesen«, hatte er insistiert.
    Und damit hatte er recht. Für Natalie wäre das alles sehr wichtig gewesen, das wusste er genau. Das wusste die ganze Stadt genau. Orion, wo Natalie sich hingewandt hatte nach ihrer Flucht aus Connecticut, war ein Ort, wo man die sorg fältige Wahl der Kleidung eines Verstorbenen für die größte Sorge der Angehörigen hielt. Natalie hatte sie an einen Ort geführt, in dem Klatsch und Tratsch genauso wichtig waren wie Anständigkeit, in dem die bedauernswerte ältere Schwes ter willkommen geheißen wurde, obwohl sie eine typische Nordstaatlerin war. Gleichzeitig hatten die Einheimischen sich Alice aber immer vom Leib gehalten, unsicher darüber, ob sie eher Misstrauen oder Fürsorglichkeit verdiente. Alle außer Frankie und Phinneaus.
    Da Albert weiterhin darauf beharrte, dass Alice für Natalie »etwas Hübsches aussuchen« sollte, warf Saisee ihr eine ganze Batterie von Nagellackfläschchen in den Schoß: So etwas hatte Alice nie benutzen wollen, als sie noch gekonnt hätte, und jetzt

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