Das Gewicht des Himmels
sofort, dass Natalie sich exakt zu diesem Zeitpunkt verändert hatte – und warum.
»Alice?«
Phinneaus hatte sich aus seinem Stuhl erhoben und stand jetzt hinter ihr, die Hände vorsichtig auf ihre Schultern gelegt.
»Das habe ich nicht gewusst«, sagte sie.
»Was hast du nicht gewusst?«
Sie reichte ihm den Negativstreifen und die Postkarte. Er setzte seine Brille auf und betrachtete schweigend die Bilder, las die Postkarte und legte sie auf den Tisch. Seine Hände berührten wieder ihre Schultern. Sie spürte seine kühle Ruhe durch den Stoff ihres dünnen T-Shirts hindurch.
»Hat sie das Kind bekommen?«
»Nein.« Alice schüttelte den Kopf. Ihre eigene Traurigkeit kam zurück und griff nach ihr, umschloss sie mit hilflosen Fingern. »Sie war bloß drei Wochen weg. Ich dachte, sie würde Freunde besuchen. Das haben sie mir jedenfalls gesagt.«
»Deine Eltern?«
»Ja.«
Sie hatte nie verstanden, wieso Natalie in diesem Sommer zum Feind übergelaufen war. Ihre Veränderung war nicht zu übersehen gewesen. Es war, als hätte irgendetwas die Schwachstelle in ihrer Familie erkannt und sie auf gebrochen, als hätte dieses Etwas Natalie sauber von den anderen abgetrennt. Aber jetzt begriff Alice, dass es kein Etwas gewesen war, was ihre Schwester von ihr entfernt hatte. Es war ein Jemand . Sie blickte noch einmal auf das Datum der Postkarte. Ende März. Also musste Natalie im fünften Monat gewesen sein. Ihr wurde ganz schlecht, als sie sich an das zarte Flattern in ihrem eigenen Bauch erinnerte, an die zunehmende Kurzatmigkeit, wenn sie die Stufen hinaufstieg.
Der Gedanke, dass ihre Eltern Natalie zu so etwas gezwungen haben könnten, löste Alices Bande zu ihnen mit einem Mal auf. Die Verbindung, die sie immer für unantastbar gehalten hatte, war zerstört. In nur einer Sekunde hatten sie sich die Masken von Monstern aufgesetzt, die ihre vertrauten, sorgenvollen Mienen durch etwas Starres, Unbewegtes ersetzten. Sie trieb durch ein leeres Dunkel, weg von ihren Eltern, hin zu dem Ort, an dem Natalie sich aufhalten musste; sie wollte sich bei ihr entschuldigen, sie trösten und besänftigen, die Worte zurücknehmen, die sie damals ausgestoßen hatte und die jede Wiederannäherung der Schwestern unmöglich gemacht hatten. Natalie hatte niemanden gehabt, dem sie sich anvertrauen konnte, niemanden, der auf ihrer Seite stand. Und dann dachte Alice an Thomas’ behutsam formulierte Worte über ihre Eltern: Sie waren auch keine Heiligen, Alice. Sie waren normale Menschen, die schlimme Fehler gemacht haben. Ausgerechnet ihm hatte Natalie sich anvertraut. Scham und Reue stiegen in Alice auf. Auch sie selbst hatte Thomas alles erzählt – aber wie banal und kindisch waren ihre Geheimnisse gewesen, verglichen mit Natalies Sorgen.
»Alice.« Phinneaus hatte die übrigen Negative aus dem Umschlag genommen und hielt einen Streifen gegen das Licht. Seine Stimme klang gepresst. »Diese Bilder sollte ich mir vielleicht gar nicht anschauen.«
»Sind es Fotos von Natalie?«
»Nein.« Er gab ihr die Negative. »Du bist drauf.«
Wie gerne wäre sie direkt in das Negativ gestiegen, hätte das blonde Mädchen an der Hand genommen und ihr ins Ohr geflüstert: Lauf weg! Es ist noch nicht zu spät. Aber die Leute glaubten einem einfach nicht, wenn man ihnen verriet, was später noch passieren würde. Mit vierzehn hatte sie auch nicht geglaubt, dass ihr eigener Körper sich selbst einmal den Krieg erklären würde. Und danach hatte sie es nicht für möglich gehalten, dass sie tapfer gegen das Fortschreiten der Krankheit kämpfen und immer nur verlieren würde. Wenn man erfuhr, was in der Zukunft passieren würde, half einem das noch lange nicht. Nichts konnte einen darauf vorbereiten.
Jene Alice, die auf ewig jung blieb und innerhalb der engen Grenzen der Filmstreifen existierte, fühlte sich besser denn je. Das Baby drängte ihre Krankheit zurück, der Rausch der Hormone fuhr durch sie hindurch, und zum al lerersten Mal spürte sie Liebe und Respekt für ihren eigenen Körper. Sie sinnierte darüber, dass er dazu fähig war, gleichzeitig zu zerstören und zu erschaffen, ohne sie selbst dabei zu ruinieren. Sie schob ihre übliche Medizin beiseite und schluckte stattdessen große, harmlose Vitaminpillen. Sie schlug sich den Bauch voll mit Milch, eiskalten grünen Trau ben, salzigen Crackern mit Butter, manchmal auch nur mit Butter, die sie sich gierig von den Fingerspitzen leckte.
Stundenlang streifte sie durch die Wälder in
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