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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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aufdringlich zu wirken.
    Sie schüttelte den Kopf. »Mach ruhig weiter, Phinneaus. Aber erst solltest du Frankie ins Bett bringen. Mir geht’s gut, aber schlafen kann ich jetzt nicht.«
    Er nahm ein Heft mit Auszügen von einem Stapel und riss ein leeres Blatt von seinem Block ab. »Ach, Schlaf wird sowieso überbewertet. Außerdem ist es Frankie sicher egal, ob er auf dem Sofa oder im Bett liegt.« Er blätterte durch die Auszüge und notierte sich immer wieder bestimmte Zahlen.
    Sie liebte den Klang seiner Stimme und bekam niemals genug davon. Sein Südstaatendialekt ging so glatt ins Ohr. Wäre sie mutiger gewesen, hätte sie ihn an sich gezogen und seine Worte in sich aufgenommen, sie geschluckt wie einen Balsam gegen alles, was falsch war in der Welt. Aber sie nahm sich bloß das Buch, eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Franny und Zooey . Alice studierte die Randbemerkungen in Natalies dicker, rundlicher Schrift: Frannys Buch – will Salinger mit der Farbe Grün Unschuld andeuten? Wo ist der spirituelle Konflikt zwischen F. und Z.? Weiter hinten fand sie zwischen den Seiten eine Postkarte und einen durchsichtigen Umschlag mit Negativen.
    Die Postkarte zeigte ein gemaltes Bild: einen roten Sport wagen vor einer amerikanischen Flagge, dazu das Wort »Corvette« in großen schwarzen Blockbuchstaben vor weißem Hintergrund. Dort, wo die Karte gefaltet gewesen war, überzogen weiße Linien das Motiv. Auf der Karte befand sich keine Briefmarke, aber ein Datum: 22. März. Dazu ein paar Sätze in einer klobigen Jungenschrift. Wir könnten zusammen abhauen – vielleicht nach Kalifornien? Ich wollte schon immer mal surfen gehen. (Bloß ein Witz, Baby.) Gib mir noch ein paar Tage und sag mir, wo wir uns treffen sollen. Keine Unterschrift. Alice drehte die Karte um. Mit wem hatte Natalie sich treffen wollen?
    Sie nahm den Umschlag mit den Negativen, zog einen Streifen heraus und hielt ihn gegen das Licht. Eine kleine Geschichte in Orangebraun. Es waren nur vier Bilder auf dem Streifen. Sie waren nicht datiert, aber Alice ahnte, wann sie aufgenommen worden waren: 1963, im Frühsommer, bevor sie ihre jährliche Reise an den See angetreten hatten.
    Natalie trug ein Kleid mit tiefem, eckigem Ausschnitt und Trägern, die an den Schultern zusammengeknotet wurden. Sie hatte es zum siebzehnten Geburtstag im Oktober geschenkt bekommen. Alice erinnerte sich daran, wie stolz ihre Schwester gewesen war, als sie es zum ersten Mal anhatte. Der königsblaue Stoff ließ ihre Haut schimmern wie Perlmutt. Die Mutter hatte das Kleid erst gekauft, als es im Sommerschlussverkauf herabgesetzt war, und Natalie hatte sich bitterlich darüber beschwert, dass sie mindestens acht Monate warten musste, bis sie es einweihen konnte. Aber irgendwann war es dann doch so weit gewesen. Auf dem Bild fiel ihr das blonde Haar nach vorn über die Schultern, die Hände hatte sie trotzig in die Hüften gestemmt, und ihre Miene war völlig undurchdringlich.
    Der Aufnahmeort war Alice fremd: eine Landschaft mit einem Teich, umgeben von hohen Gräsern und halb im Boden steckenden Felsen, dahinter ein Zaun und ein Laubwald. Während der ersten drei Juliwochen war Natalie fort gewesen. Sie hatte Freunde der Eltern besucht, die ihr das Smith College zeigten und ihr einen Hauch des Studentenlebens vermittelten. Vielleicht war die plötzliche Strenge ihrer Eltern, die damals unbedingt hatten sicherstellen wollen, dass Natalie auch wirklich aufs College ging, eine Reaktion darauf gewesen, dass sie die Postkarte gefunden hatten? Alice erinnerte sich vage daran, dass die Situation kurz vor Natalies Abfahrt ziemlich angespannt gewesen war. Die Hintergrundmusik knallender Türen und kreischender Vorwürfe begleitete damals jede Mahlzeit. Mit einem Hauch von Schuldgefühl dachte sie auch daran, wie erleichtert sie gewesen war, als Natalie abgereist war und es im Haus wieder ruhig wurde.
    Die Fotos mussten bei den Freunden ihrer Eltern aufgenommen worden sein. Sie betrachtete die übrigen Bilder und stutzte, als sie das letzte in der Reihe sah. Bestürzt ließ sie den Negativstreifen fallen und bedeckte den Mund mit den Händen. Aus ihrem Magen stieg Übelkeit auf.
    Natalie, von der Seite fotografiert, in demselben Kleid. Sie umfasste ihren Bauch mit den Händen, eine oberhalb, eine unterhalb der kleinen Kugel, die sich unter dem straff gespannten Kleid hervorwölbte. Und obwohl die Welt da mals, vor vielen, vielen Jahren, nur zweidimensional zu sehen war, begriff Alice

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