Das Gewicht des Himmels
der Nähe des Hauses, damit sie Natalie nicht begegnen musste. Sie kam erst wieder zurück, wenn die Luft abends kühl wurde und ihr Haar, ihr Mantel und ihre Stiefel mit kleinen Hinterlassenschaften des Waldes überzogen waren. Natalie hatte nie nach den Einzelheiten ihrer Schwangerschaft gefragt – was Alice gleichzeitig erleichterte und in Unruhe versetzte. Ihre Schwester hatte vielmehr eine seltsame Kombination aus berechnenden Komplimenten und lässiger Gleichgültigkeit an den Tag gelegt – so als gäbe es noch eine andere Erklärung für die Kleider, die plötzlich nicht mehr passten, und den staksigen Gang, den Alice sich angewöhnt hatte. Alice fiel in einen bodenlosen Schlaf, sobald sie ins Bett gekrabbelt war, und wenn sie wieder aufwachte, ruhten ihre Hände auf der harten Kugel ihres Bauches.
Das war jene Alice, die einige Briefe an ihn anfing, nach dem ersten Absatz aber immer aufhörte, noch bevor sie irgendwelche Worte von Bedeutung zu Papier gebracht hatte. Sie zerriss die Briefe in winzige Stücke und brachte sie in der Tasche ihres Morgenrocks ins Badezimmer, um sie in der Toilette hinunterzuspülen. Es war ohnehin besser, noch einen Tag abzuwarten, bevor sie es ihm sagte, und dann noch einen und noch einen. Als die Tage und die Wochen vergingen, betrachtete sie das Baby zunehmend als etwas, das ihr allein gehörte, und immer wenn sie schwach wurde, dachte sie an die Lüge, die aus seinem Mund gekommen war, und an das Leben, das er führte. Jemand wie er war als Vater sowieso nicht geeignet.
Auf dem Negativ, das sie zwischen den Fingern hielt, stand sie im Garten des Hauses, in dem sie aufgewachsen war. Es war ein schöner Frühsommertag, und die Vögel tanzten in der Luft. Man sah Alice von der Seite, das Haar über eine Schulter fallend, die Hände auf den runden Bauch gelegt, eine oberhalb, eine unterhalb des Nabels. Es war fast dieselbe Pose, in der Natalie neun Jahre zuvor abgelichtet worden war. Offensichtlich war sie sich nicht bewusst, dass jemand fotografierte.
»Ach, Natalie«, flüsterte sie und fragte sich, wo eigentlich der Abzug des Negativs geblieben war. »Was hast du bloß getan?«
11
F inch war hocherfreut, dass er die Weihnachtstage zum Vorwand nehmen konnte, endlich wieder zurückzukehren in die behagliche Wärme seiner eigenen vertrauten Räume, in eine leuchtende, festlich gestimmte Stadt, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Die Abendessen mit Lydia und ihrem Mann boten Anlass zur Vorfreude, unter anderem, weil die Speisenfolge der Jahreszeit entspre chend großzügiger gestaltet wurde und er in diesen wenigen glanzvollen Wochen Gerichte vorgesetzt bekam, die er liebte: Pasteten mit knusprigen, buttertriefenden Krusten, Braten mit interessanten Chutneys, Quitte zum Beispiel. Warum aß er nicht häufiger Quitten? Sie schmeckten köstlich! Kartoffeln, die zu Brei zerdrückt, zu Bergen aufgetürmt und mit Marshmallows überbacken waren. Hin und wieder konnte er seinen Schwiegersohn Kevin sogar dazu verleiten, ihm ein Gläschen Eierlikör einzuschenken, wenn Lydia gerade nicht hersah.
Das schlichte, klassizistische Haus seiner Tochter war mit immergrünen Girlanden dekoriert, die von den Kerzen leuchtern herabhingen und sich um das Treppengeländer rankten. An einer Halterung im Foyer baumelte ein Strauß Misteln mit geisterhaft bleichen Beeren. Nach einem Gläschen Port musste er nur die Augen schließen, und schon wartete Claire darauf, dass er ihr den Arm um die Taille legte und mit ihr im Walzerschritt durch den Raum tanzte, bis sie direkt darunter standen. Ihr Hals glänzte einladend wie poliertes Elfenbein, und ihr entzückter kleiner Aufschrei schlängelte sich verführerisch in sein Ohr. »Denny«, hatte sie in solchen Momenten leicht atemlos geflüstert, »es wird Zeit, nach Hause zu gehen, meinst du nicht auch?« Und dann hatte sie ihn angelächelt und ihm zugezwinkert. Ach, wenn diese Frau etwas wollte, war sie alles andere als subtil. Seine glücklichsten Erinnerungen hatte er an die Zeiten, in denen sie ihn gewollt hatte.
Thanksgiving, nur eine Woche früher, war ein einziges Fiasko gewesen. Finch und Lydia hatten sich gemeinsam durch den Jahrestag von Claires Tod gequält, obwohl sie ganz unterschiedlich trauerten. Lydia blieb stumm, wenn er Erinnerungen an ihre Mutter hervorkramte, und schien zufrieden, einfach nur mit ihm zusammenzusitzen. Ihn dagegen tröstete es, wenn er Claires Namen immer wieder laut aussprach, ihn in seine Bemerkungen,
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