Das Gewicht des Himmels
Anekdoten und weitschweifigen Geschichten einbaute, die sich alle um Claire drehten. Das festliche Dinner war eine rührselige Angelegenheit gewesen; die Tafel hatte sich unter der Last zu vieler Schüsseln gebogen. Er und Lydia hatten lustlos in ihrem Essen gestochert und es Kevin überlassen, mit Small Talk den tiefen Graben zwischen ihren beiden Trauerkontinenten zu überbrücken. Nach dem Essen war er in die Küche gegangen, wo Lydia vor dem offenen Kühlschrank stand und die mit Klarsichtfolie abgedeckten Teller wie eine Kellnerin auf den Armen balancierte, weil sie keinen Platz für sie fand.
Am Abend hatten sie sich gegenseitig ein Versprechen gegeben: So würden sie Weihnachten und Neujahr auf keinen Fall verbringen.
»Sie fände es schrecklich«, hatte Finch gesagt.
»Ja«, hatte Lydia geantwortet, »sie wäre sehr wütend auf uns.«
»Sie würde wahrscheinlich Sachen an die Wand werfen. Porzellan. Das will ich nicht riskieren. Du vielleicht?« Lydia hatte lachend den Kopf geschüttelt und war ihm um den Hals gefallen. Und so hatten sie einen neuen Anfang gemacht.
Finch spürte, wie seine Lebensgeister neu erwachten. Auch das lag an Claire – nicht in erster Linie, weil sie diese festliche Zeit so sehr geliebt hatte, sondern weil ihr so gefallen hatte, was Weihnachten in ihm auslöste: Ihm wurde schwindelig vor Freude und überwältigender Dankbarkeit. Vergiss nicht, wie glücklich du dich schätzen kannst, hatte er sich Jahr für Jahr gesagt und sich vor Augen geführt, was ihm alles geschenkt worden war: Claire, Lydia, ein zufrie dener Rückblick auf seine Lebensleistung, die Fähigkeit, sie realistisch einzuschätzen. Das war mehr als genug. Er war unbestreitbar ein sentimentaler Narr, aber in dieser Jahreszeit war ihm das recht. Finch, sagte er sich, ein wenig Friede auf Erden täte dir gut.
Fast hielt er die ganze Sache mit Thomas für einen Irr tum, ein trauriges, armseliges Kapitel aus der Vergangenheit, das der Maler nun unbedingt ans Licht zerren wollte. Sicher, sie hatten im Flur der Edells Thomas’ Zeichnung der Familie Kessler entdeckt, aber den anderen beiden Teilen des Triptychons waren sie keinen Deut näher als am Anfang. Er hatte Stephen endlich davon überzeugen können, dass es besser wäre, sich für eine Weile getrennt voneinander auf die jeweiligen Stärken zu besinnen, um neue Informationen aufzutreiben. Er freute sich aufrichtig auf ein paar Wochen ohne einen Gedanken an die ganze Sache. Ein Weihnachtslied summend, rollte er die Ärmel hoch und rieb ein Brathähnchen mit Salz und Pfeffer ein.
»Claire«, sagte er zwischen zwei Strophen laut, »ich habe vor, mir heute Abend grünes Gemüse zu kochen – passend zur Weihnachtszeit.« Nicht einmal das Klingeln des Telefons riss ihn aus seiner beschwingten Stimmung, und er freute sich, als er auf dem Display Lydias Nummer sah.
»Geliebte Tochter. Oh du mein Augapfel. Du wirst mit Freuden vernehmen, dass ich heute Brokkoli gekauft habe und mich vielleicht sogar dazu durchringen werde, einige der teuflisch grünen Röschen abzuschneiden und zu verzehren.«
»Dad? Alles in Ordnung mit dir?«
»Alles komplett im grünen Bereich. Rosige Aussichten, könnte man sagen. Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen dieses Anrufs?«
»Ich wollte dich für Samstag zum Abendessen einladen. Wenn du Zeit hast.«
»Sehr gerne. Könnte mir nichts Besseres vorstellen. Soll ich etwas mitbringen?«
»Genau das hat Stephen auch gefragt. Ihr beide habt so viel Zeit miteinander verbracht, dass ihr schon in den gleichen Bahnen denkt.«
Finch merkte, dass seine Stimmung gefährlich kippte. »Jameson? Was hat der damit zu tun?« Sie hatte doch nicht etwa …
»Ich habe ihn auch eingeladen.«
Sie hatte. Er konnte gerade noch ein Stöhnen unterdrücken. »Lydia, hör zu. Ich bin alt genug, um mich selbst mit meinen Spielkameraden zu verabreden. Wenn ich mit Stephen essen will, rufe ich ihn an und sage: ›Stephen, lass uns zusammen essen gehen.‹ Ich kann mich nicht erinnern, das getan zu haben.«
»Dad, es ist Weihnachten. Er ist allein. Du hast selbst gesagt, dass ihm etwas mehr Kontakt zu Menschen guttäte. Betrachte es als einen Akt der Wohltätigkeit.« Als hätte er nicht schon genug Wohltätiges getan. Stundenlang hatte er sich in einem engen, schlecht belüfteten Auto Stephens Predigten über die Wavelet-Transformation anhören müssen und über die wundersamen Methoden, mit denen man heutzutage ein Gemälde in ein digitales Bild
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