Das Gewicht des Himmels
umwandeln konnte, um es mathematisch und statistisch zu analysieren.
»Und der Zweck dieses ganzen Analysierens …«, hatte er nachgehakt.
Bei der Bitte um nähere Erläuterung hatten Stephens Augen aufgeleuchtet. »Es erlaubt uns, die Techniken eines bestimmten Künstlers und dessen Verwendung bestimmter Materialien zu erfassen. Gibt uns ein weiteres Werkzeug an die Hand, mit dem wir Fälschungen erkennen oder Werke, die nicht in ihrer Gänze von dem Künstler stammen, dem sie zugeschrieben werden. Stellen Sie sich das vor! Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft werden wir mithilfe der Wissenschaft den Urheber mit absoluter Sicherheit ermitteln können.«
»Wie wunderbar«, sagte Finch. »Und macht sich inmitten all dieser Transformation irgendjemand die Mühe, das Gemälde selbst zu betrachten? Das Thema? Die Gefühle, die der Künstler ausdrücken wollte?«
»Also bitte!« Stephen hatte verächtlich abgewinkt. »Wann waren Sie zum letzten Mal in einer Ausstellung? Wissen Sie, was da gerade passiert?«
»Wann waren Sie das letzte Mal in einer?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
»Lächerlich«, hatte Finch geknurrt. »Diese Diskussion ist doch lachhaft.«
»Ich glaube, lachhaft ist nicht das richtige Wort. Mein Argument ist alles andere als unsinnig und keineswegs absurd oder komisch.«
»Mir dröhnt der Schädel, wenn Sie so reden.«
»Hätten Sie doch einfach meine Frage beantwortet … Die Leute gehen ins Museum, um sich eine Ausstellung anzusehen, über die jemand gesagt hat, dass sie sie sehen müssen – und damit stillschweigend angedeutet hat, dass alle, die diese Ausstellung nicht besuchen und nicht angemessen darauf reagieren, keine echten Kunstkenner sind. Also stolpern sie mit Kopfhörern auf den Ohren in überfüllten Räumen herum und versuchen angestrengt, die winzige Schrift auf den Schildchen zu entziffern. Das ist doch nur ein Modell, mit dem man die Herdenmentalität ausbeutet. Den Leuten wird gesagt, was sie von einem Bild halten sollen, was sie darin erkennen sollen. Man nimmt ihnen die Chance, ein paar Schritte zurückzutreten und die Perspektive oder Technik auf sich wirken zu lassen, ohne dass irgendein Riesenschädel im Weg ist. Dann kollabieren sie auf viel zu harten Bänken, auf denen schon viel zu viele Menschen mit wer weiß was für fragwürdigen Hygienestandards gesessen haben. Ehrlich, Finch, bei so etwas spielen Gefühle doch wirklich kaum eine Rolle.«
Finch hätte am liebsten auf etwas – oder, genauer gesagt, jemanden – eingeschlagen. Der Gedanke, dass es im trauten Heim seiner Tochter bei Tisch zu einem solchen latent aggressiven Schlagabtausch kommen würde, war ihm zuwider. Und er war nicht in der Stimmung, einen Abend lang für Stephen das Kindermädchen zu spielen.
»Vielleicht wäre es besser, wenn wir die Parameter der Einladung ändern, Lydia. Könnten wir Stephen nicht in einem Restaurant treffen?« Er bedauerte es, die beiden je miteinander bekannt gemacht zu haben, aber er hatte keine andere Wahl gehabt, denn Stephen war gerade bei Finch zu Besuch gewesen, als Lydia mit Kevin vorbeigekommen war. Das Funkeln in Stephens Augen beim ersten Händedruck mit Lydia hatte Finch sofort misstrauisch gemacht. Entflammt. Einfach so. Stephen hatte Lydia mit den Augen verschlungen, und seine Züge waren entgleist. Er sah aus wie ein Einfaltspinsel. Es war sittenwidrig.
»Du hast gesagt, dass er in der Öffentlichkeit keine gute Figur macht.«
»Habe ich das? Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich habe ich übertrieben.«
»Dad, es wird schon gut gehen. Du wirst sehen.«
Wie um alles in der Welt konnte das gut gehen? Er hatte jedes Interesse an den Essensvorbereitungen verloren. Erst als ein Geruch nach verbranntem Hühnchen durchs Haus zog, fiel ihm das Essen wieder ein. Die trockenen, verkohlten Reste des Vogels landeten im Mülleimer, die Brokkoli röschen kehrten in ihrer Plastiktüte in den Kühlschrank zu rück. Finch verzog sich in sein Arbeitszimmer und tröstete sich mit einem Schokoladen-Nikolaus, den er von einem Teller neben dem Bankschalter geklaut hatte. Sein Ärger auf Stephen steigerte sich im Laufe des Abends immer mehr. Warum muss er sich in meine Familie drängen?
Aber kaum hatte er diesen Satz gedacht, da tauchte auch schon Claire auf und tadelte ihn wegen seiner Kleinlichkeit.
Er braucht einen Freund, Denny. So wie du.
»Ich habe Freunde.«
Hast du nicht. Um ganz offen zu sein, mein Lieber, Freunde hatten wir beide zusammen. Du hast
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