Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
sagen, was er zu sagen hatte. Es kam ihm immer noch wie ein Albtraum vor, aus dem er eben erst erwacht war. Er beugte sich dicht zu dem Wirt vor und flüsterte: »Hambley, ich habe heute im Helligwald einen Velle gesehen.«
Der Blick des Wirts huschte zu Sutter, zweifellos in der Hoffnung, an dessen verräterischem Grinsen zu erkennen, dass die beiden sich einen Scherz mit ihm erlaubten. Doch der Rübenbauer schaute ungewöhnlich ernst drein. Hambley wandte sich wieder Tahn zu, der nur stumm nickte. Was er gesehen hatte, kam ihm jetzt irgendwie noch wirklicher vor, wie gespiegelt in der angstvollen Miene des Wirts. Die drei starrten einander an.
Nach ein paar Augenblicken stieß Hambley hervor: »Du irrst dich.«
»Das bedeutet aber noch nicht, dass der Vorleser dem Velle zum Opfer gefallen ist«, überging Sutter diese hohle Leugnung. »Vielleicht ziehe ich selbst los und suche nach ihm.«
Tahn und Hambley ignorierten Sutters großspurige Worte.
Niemandem war so sehr daran gelegen, ernst genommen zu werden, wie Sutter. Tahn vermutete, dass sein Freund deshalb das Helligtal verlassen wollte. Äcker umzugraben und deren Ertrag aus der Erde zu wühlen würde ihm nie genügen – dazu sehnte er sich zu sehr nach Achtung und Romantik. An jedem anderen Tag hätte er Sutters Behauptung mit Gelächter quittiert, doch heute glaubte Tahn, sein Freund könnte es ernst meinen.
Beim ersten Vollmond nach Nordsonn würden Tahn und Sutter ihren Einstand begehen – eine Art Übergangsritus, der im Helligtal für gewöhnlich in der Ratskammer der Feldstein-Taverne stattfand. Danach würde man ihre Handlungsweise schärfer beurteilen. Sie würden für die Konsequenzen ihres Tuns einstehen müssen, im Unterschied zu Grünschnäbeln, die meistens ungestraft davonkamen. Tahn wünschte, sein Vater könnte als Beisteher dabei sein, doch Balatin war vor drei Wintern verstorben. Hambley würde diese Ehrenpflicht an seiner Stelle versehen. Tahn freute sich auf seinen Einstand, doch Sutter konnte den Wandel kaum erwarten, und sei es nur deshalb, weil man mehr auf das Wort eines Mannes gab, der die Schwelle des achtzehnten Lebensjahres überschritten hatte.
»Kommt Ogea eigentlich über die Südstraße?«, brach Tahn das Schweigen und brachte die Unterhaltung auf das eigentliche Thema zurück.
»Manchmal. Ich glaube nicht, dass er irgendwo zu Hause ist. Immer unterwegs, von einem Dorf zum anderen.« Hambley überlegte kurz. »Tahn, hat dein Vater je von … so etwas im Helligtal gesprochen?«
»Balatin?«
Tahn hatte den Namen seines Vaters lange nicht mehr ausgesprochen. Er schmeckte auf seiner Zunge wie Mahonienwurzel – süß, aber erdig. Männer von weit außerhalb des Helligtals waren zur Beisetzung seines Vaters gekommen. Manche trugen Umhänge in leuchtenden Farben mit Insignien darauf, die Tahn noch nie gesehen hatte. Andere waren still und unauffällig erschienen, hatten kein Wort gesagt und heimlichtuerische Blicke gewechselt. Doch schon vor Balatins Beerdigung hatte Tahn gespürt, dass sein Vater mehr war, als er seinen Kindern zeigte. Aber was das auch gewesen sein mochte, niemand in Helligtal war bereit, darüber zu sprechen – sofern es überhaupt jemand wusste.
Sutter beugte sich mit gerunzelten Brauen vor. »Wenn so etwas schon einmal passiert wäre, wüssten wir davon. Wichtig ist doch jetzt, was wir unternehmen wollen. Denn wenn es stimmt … dann rücken wir womöglich mit jedem Atemzug unserem letzten entgegen.«
Tahn nickte, doch die Unruhe und Panik in seiner Brust verwirrten jeden vernünftigen Gedanken. Wieder sah er die finstere Gestalt vor sich, die die Elemente lenkte und nasse Erde verbrannte.
Unbewusst zeichnete er mit einem Finger die hammerförmige Narbe nach. Niemand hatte ihn je danach gefragt, und Balatin hatte sie als Muttermal bezeichnet. Doch während er die Narbe berührte, fand Tahn die richtigen Worte.
»Wir müssen das bekannt machen. Sofort. Wir müssen die Leute warnen, ehe …«
»Dieses Wissen müsst ihr mit größter Vorsicht teilen«, unterbrach ihn eine tiefe Stimme. »Und so leise wie möglich.« Noch bevor Tahn aufblickte, sah er neben sich die dunklen Stiefel des Mannes, der in der Kammer auf der anderen Seite des Kamins gesessen hatte.
2
FREMDE IM HELLIGTAL
T ahns Teller lag vergessen auf seinem Schoß. Er hob den Blick zum Gesicht des Fremden und sah tief liegende Augen mit dunklen Ringen darunter. Der Mann trug einen kurz geschnittenen Bart, schwarz mit einem Hauch
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