Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
zu fühlen und zu bereuen, was bereits geschehen ist, Sodale.« Vendanji nahm ein Blatt aus dem Kästchen und hielt es ihm hin.
Braethen starrte es widerstrebend an.
Vendanji hob es ein wenig höher. »Nimm es.«
Braethen versuchte, unter die Kapuze des Sheson zu spähen, beugte sich dann vor und nahm das Blatt.
»Was ist das?« Er drehte das dünne, dunkelgrüne Blättchen in der offenen Hand um und betrachtete es von Nahem.
»Es wurde vor zwei Sommern vom Nebelbaum geerntet.«
»Aber es ist frisch«, stellte Braethen ungläubig fest.
»Nebelholz ist ein sehr robuster Baum, Sodale.« Braethen glaubte, unter Vendanjis Kapuze einen Ausdruck tiefer Traurigkeit zu erkennen. »Weißt du etwas darüber?«
»In historischen Werken wird er beschrieben. Manche Autoren bezeichnen ihn als Ewigen Hain und behaupten, seine Wurzeln hätten das Land selbst gewoben. Andere schreiben, sein Holz werde geschlagen, um daraus unsere Galgen zu bauen, unter denen das letzte Gericht abgehalten und die Strafe gleich vollstreckt wird.« Braethen blickte von dem kleinen Blatt hoch. »Aber diese Berichte wurden aus Tagebüchern und Aufzeichnungen der Lesergeschichten zusammengestellt, die nur mündlich überliefert wurden, so viele Zeitalter lang, dass wir nicht einmal alle benennen können. Manche davon hat mein Vater selbst verfasst.«
Vendanji nickte. »Die ältesten Geschichten enthalten stets Interpretationen. Das ist der Preis, den wir für ihre Erhaltung bezahlen. Leg dir das Blatt auf die Zunge. Ich erzähle dir, woher es kommt.« Vendanji atmete aus und blickte zum Himmel. Braethen erhaschte einen deutlicheren Blick auf die blei chen Wangen des Sheson. Der Mann war tatsächlich tieftrau rig, doch zugleich loderte Empörung in seinen Augen.
»Der Name ist richtig«, begann er. »Der Ewige Hain. Seine Blätter und Äste gehören zu den allerersten Schöpfungen, geboren aus den reinsten und stärksten Elementen. Der Baum ist prachtvoll. Dichter mussten ihre Kunst bis zum Äußersten ausschöpfen, um seine Herrlichkeit zu beschreiben. Nicht einmal Eisen und Stahl können sich mit seiner Kraft messen, und es dauert einhundert Jahre, bis sein Stamm um einen Ring wächst. Der Nebelbaum steht am Ende der Saeculoren, am Rand der Schöpfung. Seine Wurzeln wachsen ins Nichts hinaus und gewinnen dem Nebel dort Form und Substanz ab. Sie erschaffen Erde, wo zuvor keine Erde war, und zwingen so das Land zum Wachsen.«
»Aber warum hat der Hain dann noch nicht die ganze Welt überwuchert?«, fragte Braethen.
Vendanji lächelte trocken. »Seine Wurzeln weben sehr gemächlich. Der Prozess ist zu langsam, als dass wir ihn bemerken würden, doch während dort die Erde neu geschaffen wird, verwittert sie anderswo, wird an fernen Orten zu Schlick und Sand, im Westen nahe Mal’Send wie auch an hundert anderen Küsten.«
Braethen legte sich das Blatt auf die Zunge und ließ es an seinem Gaumen ruhen. Er wusste nicht, was er erwarten sollte, und einige Augenblick lang geschah gar nichts. Es war also doch nur ein Blatt. Dann floss lieblicher Nektar durch seinen Mund. Das Blatt löste sich auf, und Braethen schluckte gierig. Sofort ließen alle dumpfen Schmerzen nach, und der Rest seiner Selbstzweifel verblasste. Ruhe und Gelassenheit durchfluteten ihn, und er fühlte sich, als hätte er sich eine Woche lang ausgeruht.
Ein seltsames Lächeln huschte über Vendanjis Gesicht, als sich dieses Gefühl in Braethen ausbreitete. Der Sodale konnte nur vermuten, dass er aussah wie ein Kind, das seine erste Sirupstange schleckte.
Der Geschmack lag ihm noch auf der Zunge, und Braethen staunte über die Wirkung eines einzigen kleinen Blättchens. »Weshalb gibst du mir das jetzt?«
»Hältst du mich für selbstsüchtig, Sodale?«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich …«
Vendanji hob die Hand und führte Braethen zu der kleinen Erhebung, auf der er eben noch gestanden hatte. Braethen stieg mit ihm hinauf und starrte plötzlich von der Anhöhe auf eine schwarze Ebene hinab.
»Das vernarbte Land«, sagte Vendanji.
Deshalb also hatte der Sheson ihm das lebenspendende Blatt gegeben. Braethen blickte über das Land vor sich und empfand neue Hoffnungslosigkeit.
Vendanji ritt voran, hinab in die weite Ebene. Braethen folgte ihm auf den schwarzen Boden, der ihn an Ruß erinnerte.
Ein Geruch wie nach tausend erloschenen Kerzendochten drang ihm in die Nase, und eine leere Reglosigkeit umgab sie, noch trostloser als die Verzweiflung im Witwendorf. Das Land war
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