Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
auslöschen können.« Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf den Sheson. »Die schwarze Erde bezeugt das viel beredter als die Wörter in meinen Büchern.«
Vendanji schien mit dieser Antwort zufrieden. Doch Braethen erschütterte der grausige Gedanke, dass das, was er hier sah, auch den Rest der Welt jenseits des Mals ereilen könnte.
Schließlich beantwortete der Sheson Braethens Frage doch. »Wir suchen einen Mann namens Grant, der im Mal lebt.«
Jemand lebt hier? Braethen schauderte bei der Vorstellung.
»Du willst, dass dieser Mann sich uns anschließt.« Das war keine Frage.
»Was, wenn er sich weigert?«, fragte Mira.
»Er darf sich nicht weigern«, entgegnete Vendanji. »Die Umgebung, in der er lebt, hat ihn zweifellos geprägt. Es wird also nicht einfach sein. Aber wir müssen ihn überzeugen. Er war der Erste, der die Exigenten, die Sheson und den Rat von Decalam in Frage stellte. Mir graut davor, was geschehen wird, falls er sich weigern sollte.«
35
DER LOHN FÜR EINEN KUSS
T a usend Geschichten voller Warnungen, Misstrauen und Hass gingen Tahn durch den Kopf. Inveterae waren Geschöpfe des Borns. Manche Geschichten setzten sie mit Stilletreuen gleich. Andere erzählten von einer solchen Boshaftigkeit, einem so schrecklichen Makel, dass die Götter sie für unwürdig gehalten hatten, unter den Menschen zu leben. Das Wort Inveterae für diese Rassen, die vor Urzeiten gemeinsam mit Quietus in den Born verbannt worden waren, bedeutete wörtlich unerlöst .
Doch irgendetwas an der gelassenen Ruhe dieses Inveterae widersprach allem, was Tahn gehört hatte. Wie Balatin es ihn für die Begrüßung eines Fremden in Frieden und Freundschaft gelehrt hatte, streckte Tahn die Hand aus, mit der Handfläche nach oben, den Daumen ausgestreckt. »Ich bin Tahn Junell«, flüsterte er. »Und ich brauche deine Hilfe.«
Der Lul’Masi antwortete nicht. Die beiden starrten einander in dem spärlich erleuchteten Käfig an. Dann sprach die Kreatur so leise, dass nur Tahn sie hören konnte. »Kein Mensch hat meinesgleichen je geholfen. Die Lul’Masi haben keine Freunde im Land der Menschen.«
Tahn warf einen Blick auf Sutter, der im Stroh lag. Dann wandte er sich wieder Col’Wrent zu und hob die Hand ein wenig höher. »Dann lass mich der Erste sein.«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über die groben Züge des Lul’Masi. Zögernd hob er den mächtigen Arm und legte die Hand auf Tahns, dessen Finger in der riesigen Handfläche verschwanden. Als ihre Hände sich berührten, wurde die Miene des Lul’Masi weicher. »Quilleszent«, sagte er. Das Wort beunruhigte Tahn ein wenig, doch er hatte jetzt keine Zeit, danach zu fragen.
Sutter lag womöglich im Sterben. Auf einmal kam ihm die Idee, einen neuen Tauschhandel zu schließen.
Er beugte sich vor, und der scharfe Geruch des Geschöpfs drang ihm in die Nase. »Das Tenendra-Mädchen hat dich bedroht, damit du uns hilfst. Ich gebe dir ein anderes Versprechen. Hilf meinem Freund, und ich befreie dich aus diesem Käfig.«
Der Lul’Masi packte Tahns Hand fester – nur ein Reflex, glaubte Tahn. Das Geschöpf schloss kurz die Augen, so wie Tahn es tat, wenn er an den Sonnenaufgang dachte. Der Lul’Masi nahm einen tiefen Atemzug, bei dem sich sein Bauch dehnte und die ausströmende Luft ein tiefes Grollen in seiner Brust hervorrief.
Schließlich nickte der Lul’Masi. Sein Gesicht war so undurchdringlich wie zuvor. Aber Tahn glaubte, etwas wie Dankbarkeit in seinem Blick zu sehen. »Was fehlt deinem Freund?«
»Ein Bar’dyn hat ihn mit einer spitzenbewehrten Kugel getroffen. Erst konnte er sich kaum gerade halten, dann nicht mehr sprechen, und jetzt ist er bewusstlos. Ich glaube, er wurde vergiftet. Der Heiler in der Stadt sagte, du wüsstest vielleicht, was zu tun ist.«
Panik breitete sich in Tahns Brust aus, als Col’Wrent ihn mehrere Augenblicke lang nur reglos anstarrte. Vielleicht konnte er gar nichts tun, und Sutter würde hier auf dem Stroh im Käfig des Niederen sterben.
»Bring ihn zu mir.«
Tahn schleifte Sutter mitsamt einem Haufen Stroh ans hintere Ende des Käfigs.
Col’Wrent kniete sich hin und ragte immer noch wie ein gewaltiger Felsbrocken neben Sutter auf. »Dein Freund wird nicht sterben. Das Gift in seinem Körper soll lähmen, nicht töten. Doch ohne ein Heilmittel könnte er noch viele Tage schlafen.« Col’Wrent steckte sich den dicken Finger in den Mund und brachte daran einen zähen Klumpen Speichel und Schleim zum Vorschein.
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