Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Mädchen war gerade einmal vier Jahre alt. Es war mit missgebildeten Lippen zur Welt gekommen und konnte nicht richtig lächeln oder den Mund ganz schließen. Immer war ein Stückchen ihrer oberen Schneidezähne zu sehen, schief und krumm.
Für dieses Kind hatte er kein Zuhause finden können.
Und wenn er so darüber nachdachte, wäre das wohl auch nicht klug gewesen. Sie hätte ein trübseliges Leben geführt in der Gesellschaft grausamer Kinder und skrupelloser Erwachsener, die solche Entstellungen auszunutzen wussten. Er dachte an Tenendra-Lager, in denen Kuriositäten in Käfigen zur Schau gestellt wurden, und an schäbige Zuhälter mit niederster Kundschaft.
Wirklich beklagenswert, denn das sonnige Gemüt des Mädchens war oft das einzig Fröhliche im Leben des Mannes. Da sie ohne schiefe Blicke, grausame Witze und Unverständnis hier in seinem abgelegenen Heim hatte aufwachsen können, war sie so selbstsicher und vertrauensvoll, wie sie es verdiente. Er winkte sie zu sich heran, und sie rannte herbei, sprang auf seinen Schoß und umarmte ihn.
»Wo warst du diesmal?«, fragte sie, stets begierig auf Geschichten aller Art.
»Nur Besorgungen machen, Liebes.« Er wollte ihr noch nichts von dem Tod des Jungen sagen, den sie als Bruder betrachtete.
Sie lächelte, und ihm war bewusst, dass man sie in den Städten der Menschen wegen dieses Lächelns verunglimpft oder ausgelacht und verhöhnt hätte. Doch für ihn gab es keinen lieblicheren Ausdruck, kein Lächeln, das ihm als Lohn für einen Scherz, ein Lachen, ein Spiel lieber gewesen wäre. Er lächelte zurück.
»Hast du Sirupstangen mitgebracht?« Die Worte klangen verwischt, weil ihre Lippen einige Laute nicht hervorbringen konnten. Erwartungsvoll blickte sie zu ihm auf.
Er holte zwei Stangen aus der Brusttasche und reichte ihr eine davon. »Teil sie dir ein«, sagte er.
Sie nickte. »Hast du interessante Menschen getroffen?« Abgesehen von Geschichten wollte das Kind auch immer etwas über andere erfahren, weil es bisher nur ihn und seine übrigen Schützlinge kannte – die Kleine sehnte sich danach, etwas von der Welt und von den Menschen zu sehen.
Der Mann nickte. »Einige sehr interessante Menschen. Aber ich glaube nicht, dass du sie gern kennen lernen würdest. Du bist viel netter als sie.«
»Das sagst du immer«, erwiderte sie. »Vielleicht kommt uns einmal jemand besuchen, und dann wissen wir, wer am nettesten ist.«
Der Mann lächelte. »Ja, vielleicht.«
Das Mädchen schaute auf den Tisch. »Was machst du da?«
Nun endlich legte er das Amulett beiseite und klemmte sich seine eigene Sirupstange zwischen die Lippen. »Ich muss etwas aufschreiben«, erklärte er und strich mit den Händen über das Pergament, das vor ihm flach auf dem Tisch lag.
Im fahlen Schein seiner Kerze wirkte es so braun wie seine Haut. Er war kein Autor, kein Vorleser und kein Schreiber. Seine Fähigkeiten ruhten zuallererst auf körperlichem Geschick. Doch er besaß ein scharfes ethisches Bewusstsein, und die Strenge, mit der er stets nach seinen Grundsätzen handelte, war eine seiner wertvollsten Eigenschaften. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, überlebte er auch dank seines scharfen Verstandes, nicht nur wegen seiner Fähigkeiten im Kampf. Er konnte schreiben, auch dies hier. Ob etwas daraus werden würde, wusste er nicht. Aber er war sich dessen gewiss, dass allein der Versuch ihm Trost bringen würde.
Und gerade jetzt war es das, was er sich am meisten wünschte.
»Kann ich dir helfen?«, fragte das Mädchen. »Ich kenne schon alle Buchstaben.«
Der sonnengebräunte Mann blickte dem Mädchen in die Augen und fragte sich, ob es vielleicht das einzig Richtige wäre, sich bei seinem Vorhaben von einem Kind helfen zu lassen. Immerhin wollte er das für sie tun und für alle, die so waren wie sie.
»Ich schreibe, und du passt auf, dass die Buchstaben schön werden.«
Sie steckte sich ihre Sirupstange in den Mund und beugte sich vor, begierig, mit der Arbeit anzufangen.
Er nahm seine Feder und tauchte sie in ein Fässchen schwarzer Tinte. Dann hielt er kurz inne und blickte in die Kerzenflamme. Wenn er dieses Pergament fertig beschrieben hatte, würde er dann einen Weg finden, ihm Macht zu geben und es zu nutzen?
Er kannte nur eine Möglichkeit. Und der Zugang zu dieser Möglichkeit war vor den meisten so gut verborgen, dass sie zum Mythos geworden war. In die Tiefe hinabzusteigen, wo uralte Eide sie schützten und hüteten, war ein närrischer Gedanke.
Doch
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