Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
da saß er, ein verdorrtes Geschöpf in einem verdorrten Land, das sich um die Waisen der Welt kümmerte, ein Verbannter, der kühn genug war, auch nur an das zu denken, was er zu schreiben plante – er hielt sich für den vollkommensten Narren überhaupt. Denn nur Narren gingen weiter, als Mut und Vernunft zuließen. Und das, so gestand er sich nun ein, war genau das, was er tun musste, wenn die Schreiberei heute Abend mehr bewirken sollte, als seine Wut und Trauer zu lindern.
Mit einer schwieligen Hand strich der sonnengebräunte Mann über das honigblonde Haar seines jüngsten Schützlings. Mit der anderen Hand führte er die Feder zum Pergament und begann.
Er schrieb bis tief in die Nacht hinein, den Gedanken an eine bessere Welt vor Augen – eine bessere Welt für die Kinder, die ihm anvertraut wurden, für dieses Mädchen mit seinem wunderschönen, entstellten Lächeln. Der wettergegerbte Mann schrieb und schrieb, und der stille Donner seines Herzens floss aus der Feder.
40
WIEDER VEREINT
D er Junge ging mit hoch erhobenem Kopf und dick eingestaubten Füßen neben dem muskulösen Auktionator her. Er erklomm die Planken, und bei jedem Schritt stiegen große Staubwolken auf. Er nahm seinen Platz in der Mitte der Bühne ein, als sei ihm die ganze Prozedur schon vertraut – das Bieten, die Beurteilung, die geschliffenen Bohlen. Diesmal hatte der Mann noch kaum die Hand erhoben, um einen Preis anzuzeigen, da flogen die Stäbchen förmlich in den spätnachmittäglichen Himmel. Viele ließen sie zwischen den einzelnen Runden erst gar nicht mehr sinken.
Wendra starrte mit verschleierten Augen, die vor Schweiß brannten, dort hinauf. Penit stand schon einige Augenblicke lang dort oben, als sie ihn endlich erkannte.
Doch dann brandete eine Woge der Kraft in ihr auf. Dies war es, woran zu denken sie sich nicht erlaubt hatte, was sie nicht hatte wissen wollen. Die Hand des Auktionators zuckte hastig, während er die steigenden Gebote verkündete, und sei ne Augen weiteten sich, als so viele Stäbchen die Entschlossenheit ihrer Besitzer deutlich machten, diesen Jungen zu kaufen, den sie nicht einmal kannten. Alle boten für ihn, alle wollten ihn haben – alle außer Jastail. Er hatte noch für keinen einzigen Menschen ein Gebot abgegeben. Doch das war Wendra gleichgültig, genauso wie der Räuber selbst. Das Lied sprang in ihr empor, weit über jeden Schmerz oder Zorn hinaus, den sie je empfunden hatte. Es fühlte sich lebendig an und drängte ungeduldig darauf, in die Luft geboren zu werden. Spontan kamen ihr verstörende Fetzen einer finsteren Melodie in den Sinn, tief bewegt und wild. Sie suchten nach einer Stimme, die sie auf diesem Marktplatz zu grausamem Leben erwecken konnte.
Wendra rang mit ihren schmerzlichen Gefühlen, löste sich schwankend aus Jastails Griff, den Blick fest auf Penit gerichtet – das Kind, das fortgegangen war, um Hilfe für sie zu holen und jetzt gefesselt diesem demütigenden Feilschen um sein schlimmes Schicksal ausgeliefert zu sein. Das war zu viel für Wendra, und sie hob den Blick in den Himmel und kreischte vor ungeheuerlicher Wut. Ihr hilfloser, gellender Schrei steigerte sich zu einem schrillen Geheul, das die Stille zerriss und sie augenblicklich zu Boden schleuderte. Der Schrei hallte über die räuberische Menge hinweg und verklang in der Höhe.
Jastail half ihr auf. Wendra glaubte, einen Anflug von Angst in seinen Augen zu erkennen, doch offenbar fürchtete er nicht um sein Leben. Außerdem war sie zu wütend, um sich Gedanken um ihn zu machen. Der blendende, weiß glühende Zorn baute sich erneut in ihr auf. Sie schaute zu Penit hinüber, der sie von den Planken herab anstarrte, ein dankbares Lächeln auf den Lippen. Er hob die gefesselten Hände, um ihr zuzuwinken, und bekam dafür einen derben Stoß von dem Auktionator.
»Seid still, Teuerste«, raunte Jastail. »Das ist wirklich nicht nötig. Ich will den Jungen kaufen.«
Wendra beobachtete mit einer seltsamen Mischung aus Abscheu und Dankbarkeit, wie der Wegelagerer langsam die Hand hob und nicht wieder sinken ließ, bis nur noch sein Stäbchen in den erbarmungslosen Himmel ragte.
Wendra erwachte, schlug jedoch die Augen nicht auf. Sie blieb still liegen, denn ihr war bewusst, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett lag. Sie wusch die Decken und Laken immer mit Seife, die sie in Eimerchen aus Fichtenholz aushärten ließ, und klopfte den Staub mit Fichtenzweigen heraus. Es gefiel ihr, wenn der Morgen sie mit dem
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