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Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Titel: Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Orullian
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diesem Moment hob die Königin die Hand und gebot den Wachen Einhalt. Sie warf den beiden einen strengen Blick zu und wandte sich dann an Posian. »Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Junge?« Ihre Stimme klang nicht schrill, die Frage nicht barsch.
    Posian fasste Hoffnung, dass er sich doch aus der Situation würde retten können. »Ich sollte A’Selae einen Becher Wein bringen, damit ihm die Lippen nicht trocken werden, während er seine Winterwerke vorliest. In meiner Eile war ich unachtsam.«
    Die Königin sah ihn unverwandt an und schien seine Worte zu überdenken. Sie berührte ihr durchweichtes Kleid und rieb dann die feuchten Finger aneinander. »Autor Selae – woher kommt er?«, erkundigte sie sich.
    »Aus dem Helligtal«, antwortete Posian.
    »Und du bist der Scolito des Autors Selae aus dem Helligtal? Studierst du auch fleißig?«, fragte sie.
    »Ja, seit zwei Jahren«, entgegnete er.
    Die Königin entließ die Wachen mit einer dezenten Kopfbewegung und bedeutete Posian aufzustehen.
    Demütig erhob er sich, doch er konnte der Königin nicht in die Augen sehen.
    »Dann soll dir dieser Affront vergeben werden, unter einer Bedingung«, erklärte sie.
    Posian wusste nicht, was er tun könnte, um diese Verfehlung wiedergutzumachen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und starrte auf den Weinfleck, der sich immer weiter auf dem wunderschönen Satinkleid der Königin ausbreitete.
    »Du wirst eine Parabel für mich ersinnen«, sagte sie. »Etwas Neues. Es muss ein Gleichnis sein, das du noch nie zuvor gehört, gelesen oder erdacht hast.« Sie zog die Augenbrauen hoch, als frage sie damit, ob Posian die Bedingungen verstanden habe.
    »Ich stehe noch am Anfang meiner Ausbildung, Euer Hoheit«, protestierte er schüchtern. »Ich schreibe nicht gut und bin nicht mit Fantasie begabt.«
    Die Königin hob die mit Wein benetzte Hand. »Ich dulde keinen Widerspruch«, sagte sie mit all der Autorität ihres Standes. »Ich bin überzeugt davon, dass es dir gelingen wird. Unterhalte mich, gemahne mich … lehre mich etwas. Das ist ein königlicher Wunsch, Scolito. Willst du dich deiner Königin verweigern?«
    Posian stand da wie vor den Kopf geschlagen. Die Wachen beobachteten ihn über ihre buschigen Bärte hinweg, und der König stand mit einem flehentlichen Ausdruck auf dem Gesicht neben seiner Gemahlin.
    Posian wollte ja tun, was die Königin verlangte, doch ihm fiel nichts ein. Er versuchte sich an die Dinge zu erinnern, die Autor Selae ihn gelehrt hatte, doch er konnte an nichts anderes denken als ein finsteres Verließ, trübes Licht, das durch Gitterstäbe fiel, an ein Häuflein Stroh als Lager, neben dem man seine Notdurft verrichten musste, und das Quieken von Ratten auf der Suche nach Nahrung. Er hob den Blick zu ihren zarten Schultern, die selbst im Fackelschein milchig weiß schimmerten, und klammerte sich an ihre Worte: Lehre mich etwas.
    Langsam begann Posian zu sprechen, und weil die Gedanken nur halb geformt waren, stammelten seine Lippen die Worte.
    »Es war einmal ein Vogel. Und der Vogel war noch in seinem Ei. All die anderen Vögel waren schon geschlüpft und hatten das Nest verlassen, ehe dieser Vogel auf die Welt kommen konnte. Das Nordsonn-Fest kam und ging, und noch immer schlüpfte der Vogel nicht. Vielleicht, weil die Vogelmutter das Nest verlassen hatte, nachdem sie ihre Eier gelegt hatte. Ja, der Vogel war von Anfang an allein. Doch das wusste er nicht, denn er steckte noch in seinem Ei und kannte es nicht anders.«
    Ein Blick der Königin brachte die belustigt schnaubenden Wachen zum Schweigen. Doch Posians Parabel kristallisierte sich in seinem Kopf immer deutlicher heraus, und er sprach mit festerer Stimme weiter. »Dann, eines Tages, schlüpfte der Vogel. Er blickte sich in dem leeren Nest um und fühlte sich allein. Er wusste, dass er das Nest verlassen musste, weil er hungrig war, doch seine Beine und seine Flügel waren noch zu schwach. Also begann er zu piepsen und zu zwitschern und bemühte sich mit aller Kraft, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Kolibri kam näher, schwirrte über dem Nest und fragte mit seiner melodiösen Stimme, was der neugeborene Vogel denn noch in dem Nest mache. Das Küken verstand den Kolibri erst nicht, aber nach einer Weile begann es, dessen Laute nachzuahmen, und bald unterhielten sie sich, und der Kolibri summte dem kleinen Vogel alte Lieder vor. Doch auch der Kolibri bekam Hunger. Er lud das Küken ein, mit ihm zu kommen, doch es konnte

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