Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Titel: Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Orullian
Vom Netzwerk:
noch immer nicht fliegen. Und ehe es den Kolibri um Futter bitten konnte, war er verschwunden.«
    Die Königin schenkte ihm ein schmales Lächeln, und Posian fühlte sich ermuntert. Er holte tief Luft und erzählte weiter. Denn nun hatte er eine Idee für das passende Ende der Parabel.
    »Dann flog ein Rotfink herbei und sprach das Küken mit seinem Gezwitscher an. Wieder konnte es den Gesang nicht verstehen. Es begann, das Zwitschern nachzuahmen, und bald unterhielten sie sich miteinander. Das Küken war so froh darüber, einen neuen Freund gefunden und ein neues Lied gelernt zu haben, dass es vergaß, um Futter zu bitten, und bald flatterte der Rotfink davon.«
    Posian warf einen Blick auf die Wachen und war ein wenig stolz, als er sah, dass sie ihm aufmerksam zuhörten. Ihre grimmigen Bärte erschienen ihm unter den neugierig leuchtenden Augen gleich weniger bedrohlich. Die Spieße in ihren Händen standen schief in der Luft, und sie warteten gespannt auf den Rest seiner Geschichte.
    »Drei Tage lang kamen Vögel geflogen. Jeder zwitscherte ein anderes Lied, und das Küken lernte sie alle, obwohl keiner seiner Besucher ihm je Futter brachte oder in der Nähe blieb, um ihm Gesellschaft zu leisten. Das Küken wurde schwächer, nicht nur vor Hunger, sondern auch vor Einsamkeit. Es kannte jetzt viele wunderbare Lieder, aber es hatte niemanden, dem es sie vorsingen könnte. Der kleine Vogel musste fliegen lernen, und er schlug mit den Flügeln, um ihre Kraft zu erproben. Sie fühlten sich gut an, erschienen ihm aber zu klein, um ihn durch die Luft zu tragen, wie er es bei den anderen Vögeln gesehen hatte. Bald konnte er nicht mehr länger warten, und er hüpfte an den Rand des Nestes, bereit, seine Flügel zu erproben. Er stieß ein paar Rufe aus und sprang. Wild flatterte er mit den Flügeln, doch er konnte sich nicht in der Luft halten und stürzte zu Boden.«
    Einer der Soldaten gab einen überraschten Laut von sich und schob sich den Helm von den Ohren zurück.
    »Nachdem sich der kleine Vogel von seinem Sturz erholt hatte, entdeckte er eine Wachtel mit mehreren Jungen und bemerkte, dass sie ihm ein wenig ähnlich sahen. Auch sie flogen nicht, und er war ganz aufgeregt vor Hoffnung, nicht länger allein sein zu müssen. So schnell er konnte, rannte er auf die Wachtel und ihre Kinder zu. Doch seine Beine waren noch schwächlich und ungeschickt, und so geriet er ins Taumeln und rutschte vor der Wachtelhenne aus. Ehe er sichs versah, purzelte er gegen ihr zartes Gefieder und warf sie um.«
    Posian bemerkte, dass nun sogar der König seiner Geschichte lauschte. Er nahm die Hand seiner Gemahlin und betrachtete Posian mit sanftem, väterlichem Blick. Die Königin hatte ihre andere Hand, die nass war vor Wein, offenbar vergessen, und in ihrem Gesicht sah er gespannte Erwartung.
    Posian holte tief Luft und ließ das Ende der Geschichte in seinem Geist Gestalt annehmen.
    »Die Wachtelmutter stand auf und betrachtete alle ihre Kinder, die auf sicheren Füßen standen. Ein weiteres Küken zu beschützen würde schwierig sein. Das Küken erkannte die Sorge in den Augen der Wachtelmutter und fürchtete, wieder allein gelassen zu werden. Es war immer noch schwach, hatte keinen Freund und war ganz allein auf der Welt. Es wusste nicht, wie es die Henne überreden könnte, es bei sich und ihren Kindern bleiben zu lassen. Dann fiel dem kleinen Vogel etwas ein. Er kannte ja die Lieder all der anderen Vögel, wunderschöne Melodien, die die Wachteln vielleicht nie hörten, weil sie auf dem Boden lebten und nicht fliegen konnten. Also begann das Küken die Lieder zu zwitschern, die es von seinen Besuchern gelernt hatte. Das schien der Wachtelmutter zu gefallen. Sie sprach mit dem Küken, und es dauerte nicht lange, da konnte es auch ihr Lied verstehen. Es erzählte ihr, dass es die Lieder der anderen Vögel bewahren werde – die der Singvögel und Raubvögel, den Gesang des hübschen Rotfinks und des zarten Kolibris – und dass diese Lieder so ewig bestehen würden. Es bot ihr an, auch ihr Lied zu singen. So würde die Güte, mit der sie ihn behütete, die Zeit ebenso überdauern wie die prächtigen Lieder all der Vögel hoch oben in der Luft.«
    Posian war fertig und beobachtete die Königin aufmerksam. Er hoffte, dass er ihren Wunsch damit erfüllt hatte. Die Königin wirkte nicht zornig, doch ihre Miene zeigte auch keine Spur von Zufriedenheit. Dann rann eine Träne aus ihrem Augenwinkel, ein einziger Tropfen, der noch einen

Weitere Kostenlose Bücher