Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
auf und führte sie gen Norden. Er würde ihr keine einfache Möglichkeit zur Flucht bieten. Früher oder später würde sie selbst alles aufs Spiel setzen müssen.
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EINE SEELISCHE NARBE
A ls kleiner Junge hatte Braethen einmal den Kristallkelch von ganz hoch oben im Bücherregal in Autor Posians Studierzimmer heruntergeholt. Das war der einzige kostbare Gegenstand, den der Mann besaß, und er hatte ihn als junger Lehrling geschenkt bekommen.
Autor Posian hatte noch am Beginn seiner Ausbildung gestanden, als er mit seinem Mentor, Autor Selae, zum Sommerfest an den Hof nach Kali Firth gereist war. Dort sollte A’Selae das Winterwerk aus seiner Feder vortragen. Zu diesem prächtigen Fest kamen die Leute aus ganz Reyal-Te, viele auch aus benachbarten Ländern, manche gar aus noch ferneren Reichen. Die Künstler des Stoffes, des Pergaments und des Liedes versammelten sich alljährlich, um den Hof zu unterhalten und zu erbauen, an die Härte des vergangenen Winters zu erinnern und die Wärme der neuen Sommersonne zu feiern. Den ganzen Tag lang wurde musiziert, und die Tische auf dem großen Platz bogen sich unter dem ersten Gemüse, Gänsebraten, Räucherfisch und gekühltem Wein.
Posian erinnerte sich an die Schüsseln voller Nüsse und Früchte, kandiert mit Sirup, und an den süßen Punsch für die Kinder, deren Wangen nach mehreren Gläsern orangerot glühten. Der Duft köstlicher Speisen und abendlicher Dunst lagen in der Luft. Männer und Frauen tanzten und klatschten zur fröhlichen Musik von Fideln und Tamburinen. Frauen drehten sich und hüpften im Tanz, die Blusen rutschten ihnen von den Schultern, und das sonst ordentlich hochgesteckte Haar löste sich aus Kämmen und Spangen.
Bei Nacht war der Platz von großen Fackeln taghell erleuchtet, und die Schüsseln und Platten auf den Tischen wurden immer wieder aufgefüllt. Dennoch verebbte die ausgelassene Stimmung, während die Leute sich in kleinen Grüppchen versammelten, um die Formen und Fantasien der Autoren, Bühnendichter und Bildhauer zu bewundern.
Manchmal brach eine Menschentraube hier und da in Lachen aus. Eines Abends jedoch erlebte Posian viele Menschen, deren Augen im Fackelschein feucht schimmerten. An jenem Sommerabend hatte Autor Selae eine große Schar Zuhörer angezogen, die sich vor den Stufen eines hohen Gebäudes versammelt hatten. Posians Mentor selbst stand unter dem Eingangsportal und nutzte das Echo, um seiner Stimme mehr Kraft zu verleihen, während er laut vorlas. Spät am Abend hatte er Posian das Zeichen dafür gegeben, dass er etwas zu trinken brauchte, und Posian war zu den Tischen in der Mitte des Platzes gelaufen, um ihm Wein zu holen.
Auf dem Rückweg flitzte Posian an einer Kutsche vorbei und stieß in seiner Hast gegen eine große Frau in einem Kleid aus weißem Satin. Der Krug Rotwein ergoss sich über das strahlend weiße Gewand. Posian hob den Kopf, um sich zu entschuldigen, da wurde er auch schon von zwei kettengepanzerten Wachen mit Spießen auf die Knie gezwungen. Die Frau sah mit streng geschürzten Lippen an ihrem Kleid herab. Auf einmal erschien ein dritter Mann neben ihr, ebenso vornehm gekleidet wie die Dame. Am Gürtel trug er ein Schwert, dessen Scheide mit bunten Edelsteinen besetzt war. Sein Umhang war mit einem breiten Saum in Rot und Gold verziert und zeigte eine Stickerei von Garbe und Sense. Er hing ihm offen von den Schultern. Als der Mann den großen Weinfleck sah, runzelte er finster die Stirn und wies die Soldaten an, Posian abzuführen.
In diesem Moment hob die Frau den Blick von ihrem ruinierten Kleid und betrachtete Posian, der vor ihr kniete. Der Junge hatte sie noch nie gesehen, doch den vielen Beschreibungen nach wusste er, dass er soeben Autor Selaes Wein über das Kleid der Königin verspritzt hatte. Sie war eine überaus schöne Frau, und das machte Posian Angst, denn die Geschichten, die er aus seinen Büchern kannte, setzten solche Schönheit stets mit Eitelkeit und Verachtung für alles Unvollkommene gleich. Er war sicher, dass der König im Begriff war, ihn in den Kerker werfen oder zumindest der Feier zu verweisen – beides würde Autor Selae verärgern. König und Königin kamen für gewöhnlich nicht zu dem Fest in der Stadt, nicht aus Arroganz, so erzählte man sich, sondern weil sie glaubten, ihre Anwesenheit könnte die Feiernden ablenken. Ihr Erscheinen wäre zu jedem anderen Zeitpunkt ein großes Glück für Autor Selae gewesen. Aber das hier war eine Katastrophe.
In
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