Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
»Aber die Händler sind nicht meine größte Sorge.«
»Was dann?«
»Wenn er gut daran verdient hätte, uns auf der Auktion zu verkaufen«, erklärte Wendra, »warum hat er dann auf diesen Gewinn verzichtet? Er hat gegen seine eigenen verkommenen Freunde gekämpft, weil er ihnen diese Frage nicht beantworten wollte.« Sie hielt inne und blickte über die Schulter zum Horizont und dem Dutzend Hügel, die schon hinter ihnen lagen. »Vielleicht hätten wir ihn doch allein kämpfen lassen sollen, statt einzugreifen.«
Penit legte die Hand auf Wendras Unterarm. »Ich weiß, ich bin nur ein kleiner Junge, aber ich bin nicht hilflos. Auf den Wagen habe ich viel gelernt. Und ich werde nie wieder zulassen, dass dir etwas passiert.«
Wendra lächelte über dieses naive Versprechen. Das Kind hörte sich an wie Tahn in diesem Alter. »Das glaube ich dir«, sagte sie. »Bleib vor allem wachsam. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir ursprünglich hier sind, weil uns die Bar’dyn und andere Stilletreue angegriffen haben. Wenn sie uns wieder überfallen, werden Jastails Kumpane unsere geringste Sorge sein.«
Penit nickte. Sie stiegen ab und setzten sich zusammen auf einen umgestürzten Baumstamm, während Jastail hinter ihnen an etwas werkelte. Wendra legte einen Arm um Penit und spürte die Wärme des kleinen Körpers. Er schmiegte sich an sie. Sie hatte den Eindruck, dass diese Haltung für ihn sehr unbequem sein musste, doch er rührte sich nicht. Einen Moment lang dachte Wendra daran, das Lied ihrer Spieldose zu singen, wie Balatin es ihr vorgesungen und vorgespielt hatte. Sie musste daran denken, dass sie Momente wie diesen eines Tages auch mit ihrem eigenen Kind erlebt hätte. Die Mischung aus Liebe und Trauer schnürte ihr die Kehle zu. Sie beugte sich über den Jungen und küsste ihn auf den Kopf.
Dann blickte sie zu den Pferden hinüber und sah, dass Jastail sie beobachtete. In der Dunkelheit konnte sie seine Augen nicht erkennen, aber ihr war klar, dass er sehr wohl bemerkte, wie zärtlich sie mit Penit umging.
Er stand auf und kam näher, so dass sie seine Gesten sehen konnte und er nicht laut zu sprechen brauchte. Mit einem Hanfseil hatte er mehrere starke Äste an seinem Sattelhorn befestigt. Er wollte die Zweige hinter sich herschleppen, um ihre Spuren zu verwischen, aber wenn er nicht gut aufpasste, würde er sie nur noch deutlicher kenntlich machen. Der Straßenräuber zeigte in den Wald. »Bis zur nächsten Schlucht, dann nach Norden«, flüsterte er. »Langsam.«
Sie ritten drei weitere Wegstunden, ehe sie wieder anhielten.
Jastail band wortlos die Pferde an und breitete seine Decke am Fuß eines Baumes aus. Wendra und Penit schliefen dicht aneinandergeschmiegt, aber möglichst weit weg von ihm.
Ein derber Stiefel an ihrem Unterschenkel weckte sie am nächsten Morgen. »Packt und esst«, sagte der Wegelagerer. »Streckt noch ein wenig die Beine und Arme, ehe ihr aufsteigt.«
Jastail hatte seine Decke bereits zusammengerollt und sogar ein kleines Feuer entzündet, über dem ein Topf schwarzer Tee hing. Auf einem sauberen Stein in der Nähe des Feuers bemerkte Wendra eine Handvoll Wacholderbeeren, die dem Tee Würze verleihen würden, wenn er fertig gezogen hatte. Jastail las in einem Buch und machte sich mit einem Stäbchen aus Graphit Notizen.
Penit bestand darauf, nicht nur seine, sondern auch Wendras Decken zu verstauen und aus ihren Satteltaschen etwas zu essen zu holen. Sie erlaubte es ihm und setzte sich Jastail gegenüber auf einen kleinen Felsbrocken, um ihn zu beobachten.
Jastail blickte auf. »Erstaunt es Euch, dass ein Rohling wie ich lesen kann?«, fragte er sarkastisch.
»Nein«, entgegnete Wendra. »Ich hätte nur nicht erwartet, dass Ihr Poesie lest.«
Jastail klappte das Buch halb zu und zog interessiert die Augenbrauen hoch. »Und woher wisst Ihr, dass es sich hierbei um Poesie handelt, Teuerste? Habt Ihr etwa meine Sachen durchwühlt, ohne dass ich es bemerkt habe?« Seine Stimme klang ein wenig belustigt.
»Nein. Euer Blick gleitet ungleichmäßig über längere und kürzere Zeilen. Historien und Geschichten nehmen die ganze Seite ein.«
»Wie scharfsinnig. Und weshalb wundert Ihr Euch über diese Lektüre? Nein, wartet, lasst mich raten. Liegt es vielleicht daran, dass die Träume eines höfischen Dichters vergeudet sein müssen an jemanden wie mich, der mit lebender Ware handelt und Frauen und Kinder entführt? Denn wenn das Eure Antwort sein sollte, Teuerste, wäre das
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