Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
wünschte sich, er hätte dieses Geheimnis, das der Sheson bis jetzt für sich behalten hatte, nie gehört. Das Leidenslied, das die Lippen einiger Auserwählter sangen, war eines der letzten verbliebenen Geschenke der Ersten, ein Schutz gegen die Stille. Das Singen dieses Liedes erhielt den Schleier aufrecht und verwehrte es damit den dunklen Völkern und Geschöpfen des Einen, in die Menschenwelt vorzudringen … oder sollte das zumindest tun. Aus seinen Büchern hatte Braethen entnommen, dass die Verse nur dann wirksam waren, wenn sie als gesungene Melodie wiedergegeben wurden. Das war das Leidenslied.
Schließlich fragte Grant: »Wer stößt diesen Ruf aus?«
»Er entschlüpft den Lippen des Volks auf der Straße«, sagte Vendanji, »aber selbst dann klingt er nach der Liga.«
»Aha«, brummte Grant.
»Stilletreue sind bis tief ins Landesinnere vorgedrungen«, fügte Mira hinzu. »Sie sind bis an die südlichen Ausläufer des Mals gelangt. Sie waren uns vor weniger als vier Tagen schon auf den Fersen.«
»Sie sind noch näher gekommen, Flinkfuß.« Grant lehnte sich an seinem Feuer zurück und betrachtete einen Moment lang die Flammen. »Es war nicht schwer, dir zuvorzukommen, Fern. Du hast wahrscheinlich die schleppenden Spuren der Bar’dyn auf dem ausgedörrten Boden gesehen. Sie sind in der Nähe, aber sie wollen uns nicht zum Kampf stellen. Entweder fürchten sie sich vor uns … oder sie benutzen uns als Köder.« Grant richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Braethen. »Wie lange dauert es wohl noch, bis sie durch diese Tür hier kommen, Sodale? Ist das die Art von Gefahr, von der du sprichst, das Leben, das du so hoch zu schätzen scheinst, dass du an der Seite eines Dreirings ein Schwert trägst?«
»Es reicht!«, sagte Vendanji mit erhobener Stimme.
Aber Grant hörte nicht auf. »Und du, Fern, was für Eide brichst du, indem du ins Land der Menschen vordringst? Du bist entweder ganz wie ich weit stärker verbannt, als du es zugeben willst, oder die Geheimnisse deines Volkes werden bald von einem Velle-Stamm sogar für dich zu schnell enthüllt werden.«
»Es reicht!«, brüllte Vendanji. Seine Stimme hallte dröhnend im Haus wider, donnerte von den Deckenbalken herab und wurde vom Fußboden zurückgeworfen. »Das sind nicht die Worte des Mannes, der sich selbst unter der Last von Ketten aufrecht gehalten und seinen Anklägern die Stirn geboten hat. Nimm dich nur in Acht, durch deine Verurteilung nicht töricht zu werden.«
»Sprich sanft mit den Toten, Sheson«, erwiderte Grant. »Es gibt keine Drohung, die uns beeindruckt.« Er wandte den Blick nicht von Vendanji ab.
Der Sheson sah ihm genauso starr in die Augen. »Wir sind nach Helligtal gereist, um Tahn zu holen.«
Daraufhin blitzte Neugier in Grants Augen auf.
»Wir sind durch Myrr und über die Hochebene gekommen«, berichtete Vendanji, »aber an der Nordwand wurden wir voneinander getrennt. Er ist uns verloren gegangen und nun hoffentlich auf dem Weg nach Decalam.«
Grant biss die Zähne zusammen. Der Mann aus dem Mal blickte an ihnen allen vorbei zu den dreien, die im Schatten des Flurs standen und miteinander flüsterten.
»Ich gehöre hierher, Sheson«, sagte er. »Die Welt außerhalb des Mals ist nicht mehr die meine.«
Vendanji saß steif auf seinem Platz und schüttelte den Kopf. Seine Augen funkelten vor Abscheu. Von dort, wo Braethen stand, war die Wucht seines Zorns mit Händen zu greifen. »Dann beantworte mir diese eine Frage«, sagte der Sheson.
Grant sah ihm in die Augen.
»Warum bist du kaum einen Tag gealtert, seit du ins Exil geschickt worden bist?«
3
Der Unbehauste
D er Mann bleckte die Zähne zu einem Grinsen und griff nach Tahns Hand, um sie zum Gruß zu schütteln. Tahn hielt den Arm steif ausgestreckt und biss hinter den Lippen die Zähne zusammen. Ihm sackte der Unterkiefer herunter, als Sevillas Hand glatt durch seine eigene hindurchging.
Tahn starrte seine Finger ungläubig an. Dann geschah alles um ihn herum sehr schnell. Sevilla fletschte voller Abscheu die Zähne, und binnen eines Augenblicks begann sein Körper sich zu verwandeln. Die feinen Kleider zerfielen zu losen Lumpen, die abgetragen und voller Löcher waren. Der Hut und das Schwertgehänge, die so viel Kultiviertheit verrieten, wurden zu einer schmutzigen Schärpe und einer Mähne aus ungekämmten, verfilzten Haaren, die wie ein verschlissener alter Scheuerlappen herunterhingen. Hinter sich hörte Tahn Sutter sein Schwert ziehen. Das
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