Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Titel: Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Orullian
Vom Netzwerk:
versagen.« Er legte sich eine Hand auf die Brust. »Ich hingegen erkenne den Wert, den dieser Zunder für mich hat: Er beschwichtigt Eure rachsüchtigen Gedanken.«
    Wendra war zornig über die Geringschätzung, die er ihrem Notenblatt entgegenbrachte. Die Arroganz ihres Peinigers sorgte dafür, dass sich in ihrer Brust das verstörende Lied regte.
    »Kein Gedicht heute Abend?«, fragte Wendra in gleichmütigem Ton und machte sich so über seine Vorliebe für Poesie lustig. »Ihr wollt doch nicht Eure Bildung vernachlässigen, nur um mich, ein Stück Handelsware, zu verhöhnen? Oder ist Euch aufgegangen, dass Euer Dichter ein Narr ist?«
    Wendra wusste, dass ihre Worte ihn trafen, denn noch während sie sprach, legte sich der vertraute Zynismus über seine Augen, als er sie im Mondschein auf sie richtete. Die Strahlen des Mondes in seinen Pupillen, sein Gesicht sehr nahe an ihrem eigenen, der Duft des Süßblatts sanft wie der Kuss eines Geliebten zwischen ihnen … Kein Zorn, keine Reue, keine Furcht, keine Erwartung sprach aus seinen ausgemergelten Wangen oder seinem schmalen Mund. Er sah sie mit konzentriertem, starrem Blick an. Dann rezitierte er aus dem Gedächtnis:
    »Manch einer sucht mit neugierigem Blick die Hände, die bewegen.
    Manch einer plagt sich ab bei Tageslicht, um dann zu ruhen und seinen Tagen ein anderes Ende zu erträumen.
    Wieder ein anderer reißt keck das Maul auf,
    Und viele liegen auf den Knien und flehen gequält.
    Die Jugend scharrt, versteckt sich, übt für ihre eigene Zeit,
    Die Wand anzustarren.
    All dies betrachte ich und nenn es eine Wunde
    Und schaffe dadurch Balsam mir im Innersten,
    Mich aufzurichten, um es alles dann
    Von neuem zu betrachten.«
    Jastail sah ihr noch einen Moment lang in die Augen. Dann warf er sein Tabakkraut ins Schilf und nahm den Pferden die Sättel ab. In Wendra regte sich spontan eine Melodie zu den Worten. Sie fühlten sich an wie das Lied, das nicht gesungen werden durfte. Allein der Gedanke daran ließ ihr Herz eiskalt werden. Sie eilte hinein und überließ den Wegelagerer seinem gleichgültigen Mond und seinen düsteren Gedichten. Morgen würde, wie sie spürte, ihre letzte Gelegenheit kommen, den Jungen und sich zu retten und sich die Hoffnung zu bewahren, Tahn jemals wiederzusehen.
    Sie sagte ihrem Bruder im Schein des Minderen Lichts stumm Lebewohl, nur für alle Fälle … Ich habe dich lieb, Tahn.
    Licht fiel durchs Fenster, gedämpft durch die Zweige mehrerer Stechpalmensträucher, die neben der Hütte wuchsen. Wendra lag in Hockerstellung da, und Penit hatte sich an ihre Brust geschmiegt. Sein sanftes Einatmen dicht an der Wolldecke bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass es richtig gewesen war, ihn zu suchen. In der Hoffnung, dass ihr Schweigen Jastail auf Abstand halten würde, lag sie da, beobachtete, wie die Sonne am Himmel an Kraft gewann, hörte schließlich alte Melodien im Kopf und löste sich von der Furcht vor dem drohenden Zusammenstoß, die sie mit sich herumgetragen hatte, seit sie dem Wegelagerer begegnet war.
    Sie hörte ihn in einem anderen Teil der Hütte das Morgenbrot zubereiten. Penit würde hungrig sein, aber sie wollte ihn nicht aufwecken. Er war ihr seit Tagen nicht mehr so nahe gewesen. Seine glatte Stirn und seine flaumigen Wangen leuchteten nur einen Fingerbreit von ihren eigenen entfernt, sein Gesicht ein Bild bedingungslosen Vertrauens. Die Erinnerung daran, wie sie so an ihren Vater geschmiegt geschlafen hatte, besonders in den Monaten nach dem Tode ihrer Mutter, übermannte sie. Sein breiter Brustkorb und seine starken Arme hatten dafür gesorgt, dass sie sich geborgen gefühlt hatte. Damals wie heute war sie als Erste aufgewacht, aber still liegen geblieben, damit der Zauberbann der morgendlichen Ruhe nicht gebrochen wurde.
    So, wie sie es wohl auch bei ihrem eigenen Kind getan hätte.
    Ein leises Stöhnen entschlüpfte Penits Lippen in Reaktion auf irgendeinen versponnenen Kindertraum. Er wand sich und kam noch enger an sie geschmiegt wieder zur Ruhe. Wendra kämpfte gegen den Drang an, ihn in den Arm zu nehmen. Wenn sie es getan hätte, wäre er vielleicht aufgewacht. So leise sie konnte, begann sie zu summen; es war ein zartes Geräusch, so gedämpft, dass Penits Atem noch zu hören war und den Takt vorgab. Ihr fielen einzelne Wendungen ihrer Spieldose ein, und sie spann daraus Variationen, die so hell und verheißungsvoll waren wie das Licht, das durchs Fenster schien. Penit regte sich nicht, und Wendra

Weitere Kostenlose Bücher