Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
hatte das Gefühl zu spüren, wie sie selbst genas, wie es schon in der Höhle geschehen war, aber jetzt auf andere Art.
Als sie an die Höhle dachte, erinnerte sie sich, dass sie den Jungen hatte fragen wollen, was er in den Nebeln des Je’holta gesehen hatte, als er sich aus der Reihe gelöst hatte und geflüchtet war. Aber es schien keine Rolle mehr zu spielen, und sie entspannte sich für den Moment und blieb neben ihm liegen.
Dann öffnete er die Augen, drehte sich um und sah sie an. »Du singst gut. Wir hatten nie so eine gute Stimme auf den Wagen.«
Wendra lächelte. Dann drängte plötzlich etwas an die Oberfläche, das sie Penit schon lange hatte sagen wollen, wenn sie mit ihm allein war: »Lass dich nicht von Jastail zum Narren halten, Penit. Er tut nur so, als ob er dein Freund wäre. Er benutzt dich, um mich im Zaum zu halten, weil er weiß, dass ich nicht …«
»Ich weiß«, unterbrach Penit sie mit einem heimlichtuerischen Flüstern. »Ich kenne Männer wie ihn schon mein Leben lang. Sie sind diejenigen, die Münzen aus dem Hut am Wagenrad nehmen. Ich lasse ihn nur glauben, dass seine kleine Vorstellung ihren Zweck erfüllt, damit er mir weiter vertraut. Ich vermute, das wird uns früher oder später einen Vorteil verschaffen …«
Die Schlafzimmertür schwang mit einem dumpfen, lauten Knall gegen die Wand. »Ihr müsst essen«, rief Jastail und kehrte ins vordere Zimmer zurück. Wendra und Penit tauschten ein verschwörerisches Lächeln. Dann sprang Penit aus dem Bett und zog sich die Stiefel an.
»Kommen wir heute nach Decalam?«, fragte er, während er Jastail nachlief und so seine List weiterführte.
»Heute nicht, mein Junge.« Jastail legte einen Arm um den Jungen, und die beiden gingen durch den Flur zur Küche.
»Vielleicht nie«, fügte Wendra hinzu, die nun in dem lichtdurchfluteten Zimmer allein war.
Geröstete Haferflocken in Honig, gebratene Wasserrüben und Quellwasser standen auf dem Tisch und bildeten ein üppiges Morgenbrot. Jastail saß am Kopfende des Tisches und reichte Wendra und Penit großzügig Teller. »Ihr habt beide so hart gearbeitet«, sagte er, »da möchte ich Euch mit einem guten Frühstück belohnen. Esst reichlich.«
»Und wo habt Ihr gelernt, solch ein guter Gastgeber zu sein?«, fragte Wendra.
Jastail lächelte dünn. »Aber das wisst Ihr doch schon. Meine Gedichte lehren mich Höflichkeit, und, wisst Ihr« – er sah sich in der Hütte um – »es fehlt Wegelagerern nicht unbedingt an guten Manieren. Wir fressen nicht alle aus Trögen.«
Wendra zwang sich zu essen. Das Mahl kam ihr wie ein zusätzlicher Heuballen vor, mit dem man Kälber und Lämmer fürs Erntebad mästete, aber sie würde im richtigen Augenblick ihre Kraft brauchen, und sie aß eine zweite Portion von allem, um sicherzugehen, dass sie nicht in Ohnmacht fallen würde, wenn es so weit war.
Penit schmatzte bei jedem Bissen und genoss besonders die Haferflocken. Er schaufelte jede Portion hastig in sich hinein und schien damit zu rechnen, dass sie nach dem Morgenbrot wieder aufbrechen würden. Er stürzte sein Quellwasser hinunter, saß dann da und sah Jastail zu, wie dieser seine Wasserrüben verzehrte. Ihr Peiniger aß stumm und schien auf einmal keine Lust mehr zu haben, auf Penits Verehrung einzugehen.
Wendra dachte daran, wie Meister Olear seine Lämmer in den Schuppen führte. Die Tiere blökten und klagten, weil sie das schreckliche Schicksal spürten, das ihnen zugedacht war, bis Meister Olear dann in seinem sanften Singsang mit ihnen sprach, um sie zu beruhigen. Sie hatte nie gesehen, wie die Lämmer zu Tode gekommen waren, aber sie konnte immer noch die tröstlichen, melodischen Worte hören, die von den hölzernen Wänden des Schuppens gedämpft wurden. Sie hörte Hufe auf Brettern stehen bleiben, und dann hörte sie noch einen letzten erstickten Schrei, bevor Stille eintrat, und zugleich Meister Olears Ächzen, als er sich bückte, um sein Todeswerkzeug in das Vieh zu rammen. Sie und Penit standen so eindeutig auf den Brettern wie er in Galadell. Nun herrschte Stille, nachdem die lockenden Worte sie in die Hütte geführt hatten. Sie fragte sich, was für einen Laut Jastail wohl ausstoßen würde, wenn sie ihm zum Opfer fielen.
Sie legte die zitternden Hände in den Schoß, um sie still zu halten. Die schreckliche Ungewissheit, Jastails Plan nicht zu kennen, war niederschmetternd für sie. Wendra sah auf die Gabel hinab, mit der sie ihre Mahlzeit eingenommen hatte. Ein
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