Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
starrte in die Schatten, in denen dieser Sheson saß. Rolen stand auf und begann langsam auf und ab zu gehen. Die Ketten schwangen beinahe melodisch im Takt mit seinen Schritten. Tahn vergaß völlig seine Umgebung, seinen Hunger, die Wunden und Prellungen, sogar die Außenwelt. Ein brennender Gedanke ließ ihm den Atem stocken: Wenn ein Sheson gefesselt und eingesperrt werden konnte, dann waren die Verheißung des Entkommens und die Hoffnung, die Vendanji auf Tahn gesetzt hatte, vielleicht töricht. Tahn überlegte, ob er dadurch, dass er in dieser stinkenden Dunkelheit saß, vielleicht mehr über die Wahrheit lernen würde als in jeder Morgendämmerung, die zu sehen er erwacht war.
»Ich stamme ursprünglich aus dem Kauzwald«, begann Rolen, und obwohl seine Stimme schwach war, wurde ihr Tonfall bekümmert: »Meine Mutter besaß nur ein einziges Buch, aber sie las mir an jedem Abend meines Lebens daraus vor. Hundert Mal oder mehr blätterten wir die letzte Seite um, nur um noch einmal von vorn zu beginnen. Dieses Buch war Der Erste Sohn des Allwillens . Ich saß da, sah zu, wie sich die Lippen meiner Mutter bewegten und die Worte auf der Seite formten, und stellte mir vor, dass ich dabei wäre und Zeuge der ersten Schlacht zwischen Palamon und Johan’el würde. Und jeden Abend küssten mich ebenjene Lippen, die die Worte auf der Seite formten, auf die Stirn, um mich in den Schlaf zu wiegen, und ich sagte zu meiner Mutter, dass ich eines Tages in Palamons Fußstapfen treten und mich mit Leib und Seele dem Dienst an anderen verschreiben würde, und sei es um den Preis meines eigenen Lebens.« Ein verschmitztes Lachen entschlüpfte Rolens Lippen. »Heute kann ich mir vorstellen, wie sich das für sie angehört haben muss, aber sie antwortete immer: ›Ich weiß, Rolen‹, und drehte die Lampe herunter, bevor sie vom Dachboden hinabstieg. An dem Tag, als ich meine Melura hinter mir ließ und den Einschnitt des Wandels durchmachte, packte ich all meine Habseligkeiten zusammen und ritt nach Norden über die Landstraße von Balenns hierher.« Ehrfürchtiges Staunen sprach aus seinen Worten. »Solch eine Stadt hatte ich noch nie gesehen. Ich habe gehört, dass Ir-Caul und Dalle einen großartigen Anblick bieten, aber ich fiel auf die Knie, als die Mauern von Decalam sich vor mir aus der Ebene erhoben. Decalam erschien mir fast wie das Tabernakel des Himmels, von dem ich immer geträumt hatte. Nachdem ich das Tor passiert hatte, beeilte ich mich, nach einem Sheson zu fragen, der mich ausbilden und unterrichten konnte. Jedes Gesicht, jedes Augenpaar sah mich finster an, Flüche und verächtliche Schimpfwörter wurden mir entgegengeschleudert. ›Du vergeudest deine Jugend‹, sagten die einen, ›Du jagst Geheimnissen und Gräueln nach‹, die anderen. Die meisten nannten mich einen Narren und ließen mich stehen.« Ein trauriges Lachen folgte. »Ich konnte nicht verstehen, warum dem Orden diese Gefühle entgegenschlugen, und mehr als einmal versuchte ich, die Geschichte aus dem einzigen Buch meiner Mutter nachzuerzählen, weil ich annahm, dass die Leute die Erzählung nicht kannten. Das brachte mir nur den Geschmack von abgestandenem Bitter ein, das mir von schamlosen Lippen entgegengeprustet wurde, und mehr als einmal musste ich mich vom Boden aufrappeln. Ich fand heraus, dass der Kauzwald kleiner war, als ich gedacht hatte – oder dass meine Mutter vielleicht einem schlauen, aber verlogenen Autor auf den Leim gegangen war, der seine Geschichten nur ersonnen hatte, um Geld zu verdienen, statt um andere zu erleuchten.« Rolens Atem ging angestrengt, und der Sheson setzte sich mit klirrenden Ketten wieder hin, während seine Lunge keuchte, weil es ihm große Mühe machte, Luft zu holen.
Tahn wartete geduldig, aber erpicht darauf, den Rest der Geschichte zu hören.
Schließlich hatte der Mann Atem geschöpft und fuhr langsamer fort: »Einen ganzen Zyklus des Minderen Lichts lang suchte ich nach dem Orden und arbeitete mich von einem Ende von Decalam bis ans andere vor. Ich durchsuchte jedes Gasthaus, jede Taverne, jeden Laden, jedes Geschäft, jedes Seitengässchen. In manchen Straßen rief meine Suche nur ein hochmütiges Naserümpfen oder einen vernichtenden Blick aus einem gut gewaschenen Gesicht hervor. Aber dann bog ich eines Tages in eine Gasse ab, die nach verfaultem Kohl und modrigem Holz stank und nur von streunenden Katzen bewacht wurde. Eine kurze Treppe führte in eine heruntergekommene Bierschenke hinab, die
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